ei8ht days a week – Streifzüge durch den Wandel
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mit Boris Kochan und Freunden am 13. Juli 2025 |
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{% if data:du_version:"" %}[[data:du_version]],{% elseif data:anrede == "Herr" %}Lieber Herr [[data:lastname]],{% elseif data:anrede == "Frau" %}
Liebe Frau [[data:lastname]],{% else %}Sehr geehrte Damen und Herren,{% endif %}
in mir wächst ganz still und leise eine große Leere: In den (Lese-)Zwischenräumen des Alltags hat sich etwas eingenistet, subtil und unwiderruflich. Allüberall und jederzeit prägt das Stakkato, die Erwartung des nächsten irrwitzigen Dekrets des US-Präsidenten meinen Alltag. Mehr als 140 die gesamte Welt prägende Durchführungsverordnungen hat Donald Trump in den ersten 100 Tagen im Amt unterzeichnet, 1,4 pro Tag! Nicht nur abends auf dem Weg ins Bett und morgens beim Teekochen prägt der Blick aufs Mobile meine Tage: Nun also ab 1. August Zölle von 30 Prozent auf Waren aus der EU und Mexiko. Ob das Ende Juli, also in 14 Tagen, auch noch so ist, weiß niemand. Sicherlich auch Trump selbst nicht. Nichts daran gibt Perspektive, Hoffnung, erfüllt Sehnsucht. Das Leben als zukunftsgerichtete Tätigkeit erleidet Schaden. Toxisch ist diese Wirklichkeit – ein Wort, das seit ein paar Jahren eine überraschende Konjunktur jenseits medizinischer Kontexte erfährt. In ihrem vor Kurzem erschienenen, zumindest teilweise hinterfragungswürdigem Buch Abundance vertreten die amerikanischen Journalisten Ezra Klein und Derek Thompson die provokante These, dass unser eigentliches Zukunftsproblem nicht der reale Mangel ist, sondern ein tief verinnerlichtes Knappheitsdenken. Zumindest dieser Gedanke ist es wert, sich näher mit ihm zu beschäftigen: Obwohl heute (eigentlich) genug für alle da sein könnte – Energie, Nahrung, ja, auch Wohnraum –, dominiert in unseren Köpfen weiterhin ein Gefühl des ständigen zu wenig. Wir denken vom Mangel aus. Mangel an Natur. Mangel an Moral. Mangel an Glück. Mangel an Ressourcen, Wasser, Wohnungen, Geld, medizinischer Versorgung, Energie. Diese Angst, so die Autoren, wurzele in der Menschheitsgeschichte, in der über Jahrtausende der Mangel überlebensbestimmend war. Dies führe zu einem Verhinderungsmechanismus, mit dem gerade auch gesellschaftlich engagierte Milieus Veränderungen blockieren. Während sich das progressive Lager zunehmend in Schuldnarrativen, Gerechtigkeitspathos und moralisch aufgeladenem Verzicht erschöpft, gerät aus dem Blick, was einmal Fortschritt hieß. Die Energie des Veränderungswillens verkümmert zwischen Bedenkenmanagement und Verbotsrhetorik – und macht paradoxerweise Platz für jene, die den Wandel nicht gestalten, sondern durch Entfesselung aller Rücksichtnahmen kapern wollen. Es wirkt so, als ob das Kreative, das Mutige, das Lebensbejahende – zu den Reaktionären gewandert ist, weil dort plötzlich das Möglichkeitsversprechen liegt. Ich bin mir nicht sicher, ob das wirklich die Lösung ist: ein Denken aus der Fülle heraus. Nicht als naives Immer-Mehr, sondern als tiefes Wissen darum, dass genug da ist – wenn wir es anders verteilen, anders betrachten, anders wertschätzen. Und von einem solchen Punkt aus ließe sich vielleicht auch auf vieles leichter verzichten, das uns ohnehin nicht guttut. Wer satt ist, muss nicht hamstern. Wer Zukunft spürt, muss keine Welt retten – nur gestalten. Mit sonntäglichem Gruß Boris Kochan
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Eric Pickersgills Fotografien öffnen den Blick auf diese eigenartige Leerstelle, auf stille Gesten und beiläufige Rituale, deren Sinn sich im Moment zu verlieren scheint. Die Hände seiner Protagonisten formen eine unsichtbare Sprache, eine Choreografie des Abwesenden, ein stilles Gespräch mit dem Nichts. Es ist ein Tanz der Zwischenzustände, ein poetisches Spiel der Anwesenheit und Abwesenheit.
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Von Menschen und Goldfischen |
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Die schlechte Nachricht zuerst: Eine Studie norwegischer Forscher legt nahe, dass die Intelligenz bei Menschen, die nach der Mitte der 1970er Jahre geboren wurden, nachgelassen hat. Die gute Nachricht ist, dass es dabei wohl nur ein klitzekleines Bisschen bergab gegangen ist – bislang zumindest, aber dafür gibt’s ja jetzt KI. Die üblichen Verdächtigen für diesen Schwund, der sich übrigens nicht nur auf Menschen norwegischer Herkunft beschränkt, da genetische Ursachen ausgeschlossen werden konnten, sind Bildungsdefizite, schlechte Ernährung und überbordender Medienkonsum. Aber das ist ja alles ebenso sattsam bekannt wie die allseits beklagte Schrumpfung der Aufmerksamkeitsspanne, die seit einer Microsoft-Studie mit dem Wort von der Generation Goldfisch verbunden ist. Was auch immer die Microsoftler dazu bewogen haben mag, die menschliche Aufmerksamkeitsspanne mit der von Goldfischen zu vergleichen, das Ergebnis ist, dass sie bei Menschen seit der Jahrtausendwende von 12 auf 8 Sekunden gefallen sein soll, während der Vergleichskandidat Goldfisch mit konstanten 9 Sekunden performt hat – alles in allem Zahlen, die dem Autor dieses Artikels merkwürdig kurz erscheinen.
Aber wie dem auch sei: Bei der Langstrecken-Konzentration hapert es unbestreitbar und das macht sich selbstredend auch im Leseverhalten bemerkbar. Virtuos verschachtelte Satzkonstruktionen à la Thomas Mann, sind nicht mehr so sehr en vogue, was auch damit zusammenhängt, dass das medial eh schon (über-)strapazierte Gehirn dabei mächtig arbeiten muss, eilt es doch dem Text auch ständig voraus: Der maximalen Unklarheit darüber, was in einem Satz nach dem ersten Wort folgen könnte, begegnet es nämlich dadurch, dass es ständig alle möglichen Varianten checkt, wie dieser Satz denn weitergehen könnte – für ein untrainiertes Hirn eine ziemliche Herausforderung. Informationstheoretiker·innen rechnen diesen Vorgang heute dem Bedeutungsspektrum der Perplexität zu und die ist auch eine zentrale Baustelle bei der Entwicklung künstlicher Intelligenz. Am Anfang des Satzes ist die Perplexität logischerweise maximal; sie nimmt dann im Verlauf immer mehr ab – sollte sie jedenfalls, sofern Mensch sich noch an den Satzanfang erinnern kann. [um]
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Nimmt seit den 70ern die Intelligenz angeblich ab, so soll sie in der Menschheitsgeschichte bis dahin rasant zugenommen haben. Flynn-Effekt wird dieser Vorgang genannt, nach dem Intelligenz-Forscher James R. Flynn. Aber »What is Intelligence?« denn wirklich, um es mit einem Buchtitel von Flynn zu fragen. Die Science Blogs dröseln seine Thesen und seine Forschungsmethodik ein wenig auf.
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Muss man nicht verstehen … |
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»Findet die Stellen in einem Buch, mit denen ihr etwas anfangen könnt. Wir lesen und schreiben nicht mehr in der herkömmlichen Weise. Es gibt keinen Tod des Buches, sondern eine neue Art des Lesens.« In den 1990er-Jahren wurden die Sätze von Gilles Deleuze und Félix Guattari aus ihrem Büchlein Rhizom so häufig zitiert, dass sie sich fast totgelaufen hätten. Was schade wäre, wo sie doch einfach nur vorausgeeilt sind: einer Zeit, in der allerorten beklagt wird, die (jungen) Menschen könnten sich nicht mehr konzentrieren, und ergo sei es sinnlos, ihnen komplexe Texte vorzusetzen, die der vertieften Analyse bedürften. Denn diese im letzten Jahrtausend neue (und zugegebenermaßen auch umstrittene) Art des Lesens entspricht ziemlich genau dem, was die aktuellen Medien gerade bedienen, indem sie unseren Alltag mit Informationen fluten, die wir teilweise vorbeiströmen lassen, teilweise beiläufig aufnehmen, immer touchiert und gefärbt von dem, was unser eigentliches Tun in jenem Moment ausmacht. Wobei sich bei der Rezeption – ganz wie es Deleuze und Guattari mit ihrer Rhizomatik beschreiben – die Inhalte der Lektüre mit Realität aufladen, eine Vermischung von Innerem und Äußerem stattfindet, ohne dass es nötig wäre (oder: wobei es vielleicht sogar störend wäre), den eigentlichen Text vollständig durchdrungen zu haben.
So bewährt es sich wohl auch, und Studien belegen das, dass Jugendliche von Hörtexten oder Videos, die sie zweimal mit doppelter Geschwindigkeit anhören mehr profitieren als von einmaligem Konsum mit normalem Tempo: weil sich die Gedanken intuitiv in dem verfangen, was für den Rezipienten wichtig ist, und vielleicht zum Knotenpunkt werden für neue Assoziationen. [sib]
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Dann schlafe ich halt nicht |
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Vorne Mops, hinten Fisch: Mopsfisch heißt ein Kinderbuch des Büchner-Preis-Trägers Clemens J. Setz (hier seine Rede anlässlich dieser Auszeichnung). In fein gereimten Dreizeilern entfaltet der kleine Mopsfisch sein großes Suchtpotenzial, etwa: »Mopsfisch lila. Mopsfisch rot. Mopsfisch Luftballonpilot.« Mehr davon? »Mopsfisch kletter. Mopsfisch rauf. Mopsfisch nimmt Gefahr in Kauf.« Unangestrengt, neugierig und vergnügt überwinden Lesende wie Zuhörende die Grenzen der richtigen Außenwelt, versinken im Zauber erstaunlicher Universen, tauchen ab in Komplexi- und Absurditäten, pfeifen auf Kontrolle.
Warum nimmt man eigentlich an, Rauschzustände würden hauptsächlich durch den Konsum psychoaktiver Substanzen hervorgerufen? Auch großes Lesevergnügen kann rauschhafte Züge annehmen. Etwa, wenn wir uns lesend wie von Hokusais großer Welle unter gestreifte oder geblümte Deckenlandschaften ziehen lassen, wo Kekskrümel den wildesten Hunger besänftigen: noch eine Seite, noch ein Kapitel – »dann schlafe ich halt nicht«. Ein Leserausch kann die Grenzen des subjektiven Erlebnisraums ins Unermessliche ausdehnen, lässt Monster, Begierden, außerirdische Schönheit, spröde Erkenntnis, Tag- und Nachtgespinste zu, kehrt den Staub aus dem Alltag, schenkt der Fantasie Flügel, lässt sie fliegen. Das könnte man auch Realitätsflucht nennen. Aber wer bestimmt, dass die Erlebnisse der Innenwelt weniger bedeutsam seien als die der äußeren Wirklichkeit? Eugène Ionesco sagt: »Die Freiheit der Phantasie ist keine Flucht in das Unwirkliche, sie ist Kühnheit und Erfindung.« [gw]
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Veranstaltungen,
Ausstellungen und mehr aus dem Umfeld der 8daw-Redaktion |
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23. August bis 7. September 2025
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Die 13. Wiesbadener Fototage, Festival für aktuelle Fotokunst und Dokumentarfotografie, präsentieren vom 23. August bis 7. September 2025 in sieben Ausstellungsorten 38 Foto- und Videoprojekte zum diesjährigen Festivalthema »Zukunft? Welche Zukunft?!«. Bei insgesamt 551 Einsendungen aus 25 Ländern weltweit keine leichte Aufgabe für die Jury, 38 Projekte auszuwählen. Besonders interessant ist Sonntag, der 24. August 2025, der ganz unter dem Motto »Meet the Artists« steht. Über den Tag verteilt, sprechen die Künstler·innen in den jeweiligen Ausstellungsorten über ihre Arbeit und stellen sich den Fragen des Publikums. Am letzten August-Wochenende (30./31.08.2025) sind zudem drei zweitägige Workshops geplant. Mehr Infos zu den Künstler·innen und zu den einzelnen Ausstellungsorten finden sich auf der Website. Der Eintritt in die Ausstellungen der Wiesbadener Fototage ist frei.
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11. Juli – 23. November 2025
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Leben und Werk von mehr als 60 jüdischen Designerinnen zeigt die Ausstellung »Widerstände. Jüdische Designerinnen der Moderne«, vom 11. Juli bis 23. November 2025 im Jüdischen Museum in Berlin. Sie würdigt das Schaffen deutsch-jüdischer Kunsthandwerkerinnen, die sich trotz gesellschaftlicher Marginalisierung herausragende Positionen in ihren jeweiligen Bereichen erkämpften – bis das nationalsozialistische Regime ihre Karrieren und Leben zerstörte. Einigen gelang die Flucht und ein Neubeginn im Ausland. Fast alle wurden aus der deutschen Kunst- und Kulturgeschichte verdrängt. Anni Albers, Friedl Dicker, Maria Luiko, Emmy Roth, Irene Saltern, Tom Seidmann-Freud zählen zu den bekannteren Namen. Zu sehen ist ein breites Spektrum an Design und handwerklichen Techniken: von Goldschmiede- und Textilkunst über Keramik und Holzschnitzerei bis zu Modedesign und Grafik.
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Ein Picknick zum Anziehen: Robin Lordeaus Jacke ist kein Kleidungsstück, sondern ein tragbarer Kommentar – zwischen Pariser Lässigkeit und Goffcore-Avantgarde, zwischen Baguettehalter und Weinglasgeschirr schmiegt sich hier ein ganzer Lebensentwurf an die Schultern. Aus weggeworfenem Leder gefertigt, trägt sie nicht nur die Zutaten eines stilvollen Draußen-Daseins, sondern auch die Fragen nach Funktion, Überfluss und Eleganz im Anthropozän. Eine mobile Mise en Scène, in der die Welt zum gedeckten Tisch wird – vorausgesetzt, man hat den Mut, sie zu servieren.
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Seit der 8daw-Ausgabe BETA #13 vom 24. Juli 2020 haben wir für auf uns auf Empfehlung eines Lesers entschieden: »Der Mittelpunkt (MacOS: Shift+Alt+9; Windows: Alt+0183) wird eingesetzt wie der Asterisk *, stört jedoch deutlich weniger den Lesefluss der Leser·innen, weil er nicht nach Fußnoten ruft und auch keine Textlücken reißt wie der Gender_Gap.« Wir stellen unseren Autor·innen jedoch frei, ob sie den Mediopunkt oder eine andere Form benutzen. Alle personenbezogenen Bezeichnungen sind jedenfalls geschlechtsneutral zu verstehen.
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Herausgeber und Chefredakteur von 8daw sowie verantwortlich im Sinne des Presserechts ist Boris Kochan [bk], Steinerstraße 15c, 81369 München, boriskochan.com, zu erreichen unter boris.kochan@eightdaw.com oder +49 89 178 60-900 in Verbindung mit Kochan & Partner GmbH, Steinerstraße 15c, 81369 München, news@kochan.de
Redaktion: Ulrich Müller [um] und Gabriele Werner [gw]; Chefin vom Dienst/Lektorat: Sigrun Borstelmann [sib]; Kalender: Antje Dohmann [ad]; Regelmäßige Autoren: Markus Greve [mg], Sandra Hachmann [sh], Herbert Lechner [hel], Martin Summ [mas]; Illustrationen: Martina Wember [mwe]; Bildredaktion, Photo-Editing: Pavlo Kochan [pk]; Homepage und Newsletter-Technik: Pavlo Kochan [pk]; Basisgestaltung: Michael Bundscherer [mib]; Schriften: Tablet Gothic von Veronika Burian und José Scaglione sowie Coranto 2 von Gerard Unger, beide zu beziehen über TypeTogether; Versand über Mailjet.
Bildnachweis: Bilder: Eric Pickersgill Fundstück: Robin Lordeau
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Ausgabe: #147
Erschienen am: 13. Juli 2025 [KW28]
Thema: Lesekrise und Verbotsrhetorik
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