ei8ht days a week – Streifzüge durch den Wandel
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mit Boris Kochan und Freunden am 8. Dezember 2024 |
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Sehr geehrte Damen und Herren,
sag mir, wo die Blumen sind hat in den 1960er Jahren Marlene Dietrich gesungen und damit ein amerikanisches Friedenslied von Pete Seegers hierzulande populär gemacht. In der Hinterfragung des (übrig) Gebliebenen, der Blumen, der Mädchen, der Männer, der Gräber, kombiniert mit der wiederkehrenden Frage »Wann wird man je verstehen?« schwingt bei aller entsetzlichen – und eben leider auch so aktuellen – Traurigkeit, eine ganz kleine Hoffnung mit … dank der Frage nach den Blumen. Dass es doch nicht so bleiben müsste, wie es ist. Denn: »Die Erde lacht in Blumen«! Ralph Waldo Emerson hat mit dieser zuversichtlich-fröhlichen Zeile in seinem Gedicht Hamatreya mal so ganz nebenbei auch seinem zentralen Thema, der Wechselwirkung von Mensch und Natur, poetischen Ausdruck verliehen. Der in Europa ein wenig in Vergessenheit geratene amerikanische Essayist und Philosoph schafft es mit seiner Sprachsensibilität immer wieder, das Individuelle in den Bezug zu einer universellen Lebenswahrheit zu stellen. Dabei sind für ihn weite Bereiche unserer Sprache Metaphern, »da die ganze Natur eine Metapher des menschlichen Bewusstseins ist«. Diese Sichtweise verlangt nach zwei heute leider – nicht nur in der Politik – ziemlich in Vergessenheit geratenen Fähigkeiten (siehe dazu auch den Artikel von Ulrich Müller weiter unten): der Dialektik, die eine gemeinsame Einigung auf eine Aussage zum Ziel hat, und dem Dialog, der auf ein gegenseitiges Verständnis durch intensives Zuhören aus ist. Und darüber hinaus nach Aufrichtigkeit und Respekt – ohne diese (Politik-)Tugenden werden die Populisten und Autokraten, all diejenigen, die einfache Lösungen versprechen und Ressentiments befördern, weiteren Aufschwung erhalten. Marlene Dietrich hat nach ihrem umjubelten Auftritt bei der UNESCO-Gala einen durchaus denkwürdigen Satz als Absage an eine Zugabe formuliert: »Ich möchte gerne noch ein Lied singen, aber ich glaube, nach diesem ist keines gut genug.« Also: Kurz innehalten. Und dann: Es muss nicht so bleiben, wie es ist! Ich wünsche mir deutlich mehr Blumen in dieser (Wahlkampf-)Zeit! Herzlich Boris Kochan
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In seinem brillianten Essay Sprache untersucht Ralph Waldo Emerson das Wechselverhältnis zwischen Mensch und Natur auch etymologisch: »Richtig bedeutet ursprünglich geradlinig; falsch bedeutet verdreht. Geist bedeutet vorrangig Atem; Übergang, das Überschreiten einer Grenze; Hochmut das Hochziehen der Augenbrauen. Wir sagen Herz, um eine Gemütsbewegung zu kennzeichnen, Kopf, um das Denken zu benennen. Denken und Fühlen sind Worte, die entliehen sind von sinnlichen Dingen und die nun auf die geistige Natur übertragen werden.«
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On Kawara (1932 bis 2014), der in New York lebende japanische Konzeptkünstler, war zumeist unterwegs. Jeden Tag schuf er ein Werk mit textlichem Bezug zu Ort und Zeit und kombinierte diese Date Paintings mit zum Beispiel Postkarten oder Zeitungsausschnitten. Dabei entstand ein beeindruckendes Werk von scheinbar beiläufigen Statements, die in ihrem Minimalismus Zeit und Vergänglichkeit poetisch greifbar machen. Seine Werke (bitte zur Vergrößerung und damit besseren Sichtbarkeit auf die Bilder klicken) begleiten diese 8daw-Ausgabe mit kleinen Streifzügen zum Thema Sprache und Sprechen. Denn: Keines seiner Werke würde ohne Sprache oder Sprachbezug funktionieren …
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Sprache in Technik gegossen – das Telegramm (im Deutschen im Gegensatz zum Instant-Messaging-Dienst Telegram mit zwei m geschrieben) war für 150 Jahre, genau bis zum 31. Dezember 2022 eine überaus praktische wie schelle Nachrichtenübermittlung (höre dazu auch Reinhard Meys Ankomme, Freitag den 13.). Wenn On Kawara dies zu einer Serie täglicher Nachrichten über sich und seinen Aufenthaltsort (und indirekt auch die grafisch-technische Aufbereitung der damaligen Messaging-Dienstleister) mit – fast – immer der gleichen Botschaft entwickelt, entsteht Kunst. Eine, die das Jetzt hinterfragt, das Ich und auch das Morgen.
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Man spricht deutsch? Wen bei dieser Headline der bissige Ferienfilm von Gerhard Polt durchzuckt, findet hier den Trailer. Schon immer, wie es heißt, sprudeln aus Urgründen lokaler Stammesgeschichten wortähnliche Lautschlieren oder -brocken ins Alltagsleben und treiben (parallel zu einer Standardsprache) als Dialekte wundersame Blüten. Sie schwappen und trudeln – sich wandelnd – über Zeiten, Auen- oder Hügelland und lassen sich von politischen Grenzen keinesfalls bremsen … wie eine Studie der Universität Salzburg zeigt.
Vielfalt bereichert. Doch fordert sie auch heraus: Wie etwa soll Martin Luther 1521 die Bibel ins Deutsche übersetzen – als das Lateinische die Sprache der Gebildeten ist und das Volk höchst unterschiedliche, regionale Dialekte pflegt? Mit Zunahme der dialektüberschreitenden Mobilität, der Einführung des Radios und wachsender Medienflut verlieren Dialekte gerade bei jüngeren Menschen ihre Bedeutung. Die neuere Gehirnforschung aber zeigt, dass der parallele Gebrauch von Dialekt und Standardsprache zur Aktivierung bestimmter Synapsen führt und so die Intelligenz fördert. Den Beweis liefern bairische Wortkapriolen wie »Was dem oana sei Rengdach is, is dem andern sei Parasoi«. Hauptsache, es wird keine·r nass. Scho schee, oder? [gw]
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Die endlose Abfolge von Daten vermittelt ein aufwühlendes Gefühl von Vergänglich- und Bedeutungslosigkeit. Die Zeit ist gleichgültig, ob ihrer gleichen Gültigkeit, nahezu belanglos. In Serie wird das Werk On Kawaras zur Aufforderung, sich historischer Dimensionen bewusst zu sein. Und des eigenen Anteils daran …
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Je ne parle pas, donc je ne suis pas – hätte René Descartes die Tiere sagen, pardon, nein, denken lassen können. Denn sprechen können sie ja nicht. Und ergo, laut Martin Heidegger, auch nicht sterben, sondern sich nur in Luft auflösen. Mit der Gabe der verbalen Kommunikation verbinden Menschen offenbar ganz existenzielle Qualitäten, ungeachtet dessen, dass uns andere Lebewesen in Sachen systemischer und körperlicher Verständigung hundertfach überlegen sind. Während wir olfaktorisch gerade mal (nonverbal) mitteilen »habe heute verschlafen und deshalb nicht geduscht«, tut so eine kleine Ameise gleich ihre halbe Biografie kund, indem sie ihr tierisches Gegenüber mit einem chemischen Cocktail einnebelt, der von ihrer Herkunft über die Berufsausbildung bis zur aktuellen Tätigkeit wirklich alles ausplaudert. Inzwischen weiß man aber auch, dass Tiere Sprachen sprechen, die den unseren durchaus vergleichbar sind: Kohlmeisen bedienen sich einer Grammatik, bei der Begriffe ihre Bedeutung je nach Satzstellung verändern. Und Wale stellen sich untereinander mit Namen vor, bestimmten Klicklauten, die die Forscher als Codas bezeichnen.
Die Sprache der Tiere zu verstehen war stets ein Menschheitstraum, erst recht, seit sie domestiziert wurden. Seit es mit maschinellem Lernen möglich wurde, menschliche Sprachen ohne hinterlegtes Lexikon zu übersetzen, indem sich aus der Häufigkeit von Wortkombinationen wahrscheinliche Folgebegriffe ableiten, rückt auch die Entschlüsselung tierischer Sprachen in greifbare Nähe. Beim CETI-Projekt etwa üben sich die Experten bereits im Verständnis von Pottwalisisch (das dem menschlichen Walisisch für ungeübte Ohren an Komplexität nicht nachstehen dürfte, wie alleine ein Blick in die spannende Tabelle der Anlautmutationen zeigt). Ob ein animal deeple Descartes und Heidegger zu größerer Wertschätzung der Tierwelt bewogen hätte? Ja, ob es sogar, wie manche Forschende glauben, die Situation unserer Haus- und Nutztiere verbessern würde, wenn sie uns unmissverständlich ihre Meinung geigen könnten? Viel eher bleibt das Gegenteil zu befürchten: Menschliche Sprache war nie Selbstzweck, weshalb hinter jedem Wort Macht und Lüge lauert. Wie lange wird es dauern, bis wir gelernt haben, den Pottwal mit Fake News in die Falle zu locken? [sib]
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On Kawara erstellte auch riesige Kalender. In diesen Journals verfolgte er seinen eigenen Lebensweg und nutzte unterschiedlich farbige Punkte, um seine künstlerische Produktivität zu dokumentieren: Wann habe ich eigentlich wie viele Kunstwerke pro Tag geschaffen? Ähnlich diesem Meta-Projekt versuchte er mit Farbtafeln, die den in seiner Today-Serie verwendeten Pigmenten entsprechen, eine strukturell-künstlerische Hinterfragung des eigenen Schaffens.
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Hundebesitzer·innen, Achtung! Wenn Sie mit einem amerikanischen Mitmenschen über einen Doggybag sprechen, meint Ihr Gegenüber wahrscheinlich, es handle sich um den Behälter, in dem die Überbleibsel eines Restaurantessens zum Zwecke häuslichen Verzehrs verpackt werden. Während Sie doch vielleicht über die wenig appetitliche Hinterlassenschaft Ihrer Fellnase plaudern wollten. Missverständnisse solch schlichter Art, nennen wir sie Missverständnisse erster Ordnung, können ein Quell der Heiterkeit sein, nicht selten allerdings auch tragisch enden. Sind jedoch, wenn schon nicht klär-, dann doch zumeist einigermaßen erklärbar. Nebulöser wird es bei Missverständnissen, nennen wir sie solche zweiter Ordnung, die absichtlich herbeigeführt werden, um ein Missverstehen von Sachverhalten, vom Leben oder der Welt überhaupt anzuzetteln – zum Beispiel in den Köpfen von Bürger·innen bei Wahlkämpfen oder Koalitionsbrüchen. Fama ist der Name dieses wirklichkeitszersetzenden Giftes: das Gerücht, nahe mit der Lüge verwandt.
Zwei Grundpfeiler der Kommunikation werden nach einer Definition des Soziologen Richard Sennett dabei ausgehebelt: der dialektische, der eine gemeinsame Einigung auf eine Aussage zum Ziel hat, und der dialogische, der auf ein gegenseitiges Verständnis durch intensives Zuhören aus ist. Sobald jedoch mit Unwahrheiten jongliert wird, funktioniert das alles nicht mehr und der Weg ins heillose Missverstehen ist nurmehr ein kurzer. Aber was heißt schon wahr – und was unwahr? Eine Frage, mit der man unweigerlich vermintes Terrain betritt. Es soll heute jedoch mal nicht um Fake News und Verschwörungstheorien gehen.
Der alte Epimenides hat uns ein Rätsel aufgegeben: »Alle Kreter lügen«, schrieb er vor zweieinhalbtausend Jahren sinngemäß. Das könnte man den armen Kretern gegenüber als politisch äußerst unkorrekt auffassen, wäre Epimenides nicht selbst Kreter gewesen – und genau das birgt erhebliches Missverständlichkeitspotenzial. Wären wirklich alle Kreter Lügner, dann hätte natürlich auch Epimenides gelogen und die Kreter wären folglich doch keine Lügner. Oder nicht? Und was, wenn Epimenides nun aber die Wahrheit gesagt hätte? Verdammt komplizierte Angelegenheit. Dann doch lieber zurück zum guten alten Missverständnis erster Ordnung – schlichte Hausmannskost gewissermaßen, nach dem Motto: »Ich dachte, Du wolltest den Müll rausbringen, Schatz!« [um]
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In den 60er Jahren in den USA entstanden, ist das Fach Interkulturelle Kommunikation heute nicht mehr aus den Lehrplänen der Universitäten in aller Welt wegzudenken – und das ist gut so. Ist man schon im häuslichen Nahbereich nie vor Missverständnissen gefeit, wie kompliziert wird es dann erst, wenn verschiedene Kulturen aufeinanderprallen? Eine sehr ernsthafte und wichtige Disziplin also, mit allerdings nicht unerheblichem Unterhaltungswert, wie in Hans Jürgen Heringers populärwissenschaftlichem Standardwerk Interkulturelle Kommunikation sehr nachvollziehbar dokumentiert.
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Veranstaltungen,
Ausstellungen und mehr aus dem Umfeld der 8daw-Redaktion |
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Schriftbegeisterte aus aller Welt treffen sich im nächsten April in Kopenhagen. Ein Programm gibt es noch nicht, die Inhalte der Typografie-Konferenz werden sich aber auch um dänisches Design und dänische Kultur drehen. Veranstaltungsort ist die Königlich Dänische Akademie im Hafen von Kopenhagen. Die Typedesignerin und Professorin Sofie Beier ist Chairwoman der ATypI. Sie unterrichtet an der School of Design der Königlich Dänischen Akademie und ist Leiterin des Zentrums für Visibility Design. Unterstützung bekommt sie von ihren Kollegen Anders Thulin und Matthias Horneman-Thielcke. Wer sich für den Newsletter einträgt, bekommt alle neuen Infos zum Programm und zu Sprechern der ATypI.
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Der Deutsche Designtag veranstaltet im kommenden Mai in München den Bundeskongress DIVE’25 – Design trifft Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Drei Tage lang kommen visionäre Köpfe aus Design, Politik, Wirtschaft und Wissenschaft zusammen, schauen über den disziplinären Tellerrand und diskutieren gemeinsam mit dem Publikum über die soziale, transformative, ökologische und kulturelle Relevanz des Designs. DIVE’25 will Zukunftsperspektiven für und durch Design aufzeigen und lädt zum Netzwerken ebenso wie zum Entwickeln neuer Projekte ein. Der Kongress ist eine Einladung zum Dialog … vor, auf und hinter der Bühne. Wer auf dem Laufenden bleiben will, abonniert den Newsletter.
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Beim Hausmeisterservice mit dem schönen Namen Casa Mia gibt es nicht nur Handwerkerarbeiten, sondern auch Entrüpelungen. Vielleicht ein empfehlenswerter neuer Vertragspartner für die deutschen Länderparlamente wie auch den Bundestag, die seit dem Einzug der AfD nicht nur sprachlich eine deutliche Radikalisierung erfahren haben.
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Seit der 8daw-Ausgabe BETA #13 vom 24. Juli 2020 haben wir für auf uns auf Empfehlung eines Lesers entschieden: »Der Mittelpunkt (MacOS: Shift+Alt+9; Windows: Alt+0183) wird eingesetzt wie der Asterisk *, stört jedoch deutlich weniger den Lesefluss der Leser·innen, weil er nicht nach Fußnoten ruft und auch keine Textlücken reißt wie der Gender_Gap.« Wir stellen unseren Autor·innen jedoch frei, ob sie den Mediopunkt oder eine andere Form benutzen. Alle personenbezogenen Bezeichnungen sind jedenfalls geschlechtsneutral zu verstehen.
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Herausgeber und Chefredakteur von 8daw sowie verantwortlich im Sinne des Presserechts ist Boris Kochan [bk], Steinerstraße 15c, 81369 München, boriskochan.com, zu erreichen unter boris.kochan@eightdaw.com oder +49 89 178 60-900 in Verbindung mit Kochan & Partner GmbH, Steinerstraße 15c, 81369 München, news@kochan.de
Redaktion: Ulrich Müller [um] und Gabriele Werner [gw]; Chefin vom Dienst/Lektorat: Sigrun Borstelmann [sib]; Kalender: Antje Dohmann [ad]; Regelmäßige Autoren: Markus Greve [mg], Sandra Hachmann [sh], Herbert Lechner [hel], Martin Summ [mas]; Illustrationen: Martina Wember [mwe]; Bildredaktion, Photo-Editing: Pavlo Kochan [pk]; Homepage und Newsletter-Technik: Pavlo Kochan [pk]; Basisgestaltung: Michael Bundscherer [mib]; Schriften: Tablet Gothic von Veronika Burian und José Scaglione sowie Coranto 2 von Gerard Unger, beide zu beziehen über TypeTogether; Versand über Mailjet.
Bildnachweis: © On Kawara
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