ei8ht days a week – Streifzüge durch den Wandel
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mit Boris Kochan und Freunden am 4. Mai 2023 |
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{% if data:du_version:"" %}[[data:du_version]],{% elseif data:anrede == "Herr" %}Lieber Herr [[data:lastname]],{% elseif data:anrede == "Frau" %}
Liebe Frau [[data:lastname]],{% else %}Sehr geehrte Damen und Herren,{% endif %}
irgendein Depp mäht irgendwo immer, ob Rasentraktor oder Kantentrimmer, von Oberpfaffenhofen bis nach Gütersloh! Irgendwo zwischen der Zeitung von gestern und dem Wechsel der Jahreszeiten (und dem alten Gassenhauer von Reinhard Mey) findet gerade mal wieder eine Disruption statt … zumindest wenn man all den vielen (Business- und Start-up-Konferenz-)Verkündungen Glauben schenken möchte. Steve Jobs hat das mal ganz lässig die Delle oder Kerbe (dent) genannt, die er bzw. die Apple-Community ins Universum schlägt. Auch Trendforscher Matthias Horx zweifelt schon lange am Mythos Disruption und deutet sie zur nachgerade freundlichen Störung um, die Evolution überhaupt erst ermöglicht. Aufrütteln, aufbrechen – natürlich bedarf es des Bruchs, des Moments des Abschiednehmens, um sich dem Neuen zu öffnen. Im Nachgang betrachtet, verwischen die akut gerne als groß empfundenen Ereignisse zu äußerst überschaubaren, evolutionären Entwicklungen. Was heute als gigantisch erscheint, mag morgen nur noch einer dieser ganz kleinen Meilensteine sein, die den Weg markieren. In diesen Tagen ist Gunter Hofmanns lesenswerte Biografie über Willy Brandt erschienen, sie zeigt »einen Politiker auf der Suche nach dem besseren Deutschland – und liefert eine überzeugende Verteidigung von dessen Ostpolitik«. »In scharfem Gegensatz zu unseren Tagen, in denen mitunter obsessiv das Trennende betont wird, erforschte Brandt den gemeinsamen Boden«, schreibt Joachim Käppner in der Süddeutschen über »den Sämann«. Brandt hat etwas geschafft, von dem die Politik heute weiter entfernt ist denn je: »Er prägte unsere Vorstellung von der Nation, in der wir leben möchten.« So eine Idee von Vision und Vermittlung wäre heute schon ziemlich disruptiv, oder? Ich wünsche einen guten Start ins Wochenende – und damit in spannende neun Tage Münchner Designwoche unter dem Motto, zu dem ich am Montag kurz sprechen darf: Why disruption unleashes creativity! Boris Kochan
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Zwischen Faszination und Ekel – wenn die Biokünstlerin Dasha Plesen aka Daria Fedorova das Ergebnis ihrer mikrobiologischen Schimmelstudien zeigt, wird es vielen mulmig zumute. Sie fordert und fördert die Freiheit von Bakterien und Pilzen: Schimmel versteht sie als ein über sich selbst hinausweisendes Zeitzeichen, einen Ausdruck für Vergänglichkeit und Wandel. Viele ihrer Sporenproben und Nährstoffmischungen entwickeln sich langsam, manche aber auch in rasender Geschwindigkeit – wobei sie nie eingreift, sondern die komplexen, farbenfrohen Ergebnisse in von ihr so zufällig wie absichtsvoll gewählten Momenten direkt in den Petrischalen oder durch das Okular medizinischer Mikroskope fotografiert.
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Zeit, die zwischen ein Pferd und ein Auto passt |
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Einem Kometeneinschlag vergleichbar, so beschreiben einige Netzautoren den In-Begriff Disruption. Da geht's ums Zerschlagen, Zerstören, um radikale Verdrängung – das Alte muss weg, damit das Neue Platz findet. Ein Lieblingsbeispiel dafür ist das Auto, das das Pferd als Mobilitätsmittel endgültig verdrängt. Schätzungen zufolge werden Last-, Zug- und Reitpferde bereits um 3.500 vor Christus genutzt. Ab dem 2. Jahrhundert nach Christus kennen die Römer gefederte Reisewagen. Ab dem 15. Jahrhundert entwickeln sich Kutschen zum Statussymbol und zum wichtigsten Transportmittel in Europa. Ab dem 17. Jahrhundert können Fahrgäste in Postkutschen reisen – das erste öffentliche Verkehrsmittel ist geboren. 1769 stellt der Franzose Nicholas Cugnot sein Fahrzeug mit Wasserdampf-Antrieb vor. Leider war es schwer zu lenken und hatte keine Bremsen (ein schönes Lernfeld …). Dann tauchen neue Antriebssysteme auf, die Elektro- und Verbrennungsmotoren. Der Schotte Robert Anderson fährt in den 1830er Jahren auf einer dreirädrigen elektrischen Kutsche durch seine Heimatstadt – mit 12 km/h. 1888 bringt der Coburger Unternehmer Andreas Flocken sein elektrisch betriebenes Automobil auf den Markt. Gottlieb Daimler baut 1886 eine durch Benzin angetriebene Motorkutsche, Carl Friedrich Benz seinen Motorwagen Nummer 1. Ist das nun der Augenblick der Disruption? Nach einer Jahrhunderte währenden Entwicklungsgeschichte? Echt?
In diese Zeit sagt Wilhelm II: »Ich glaube an das Pferd. Das Automobil ist eine vorübergehende Erscheinung.« Dieses Zitat erzählt von enormen Beharrungskräften, vom selbstgerechten Anspruch auf hierarchische Macht, auf Kontrolle und Berechenbarkeit. Doch in veränderungsintensiven Zeiten kann lineares, berechenbares Denken keine Tür ins Morgen öffnen (da es sich immer aus Vergangenem speist). Innovationen folgen keinem Plan. Auf unbekanntem Terrain sind fixe Ziele ohnehin unsinnig. Das Neue entsteht in langen Versuchs- und Irrtumsreihen, im Austausch mit fremden Gewerken, anderer Denkungsart. Dabei könnte auch das Spielen und Experimentieren mit bereits zur Seite Gelegtem (im Beispiel etwa der Elektromotor), zur Inspirationsquelle geraten. Also, lasst uns spielen, lasst uns Fehler machen, lasst uns die Veränderung annehmen und gestalten. Weil wir das Neue lieben – es riecht so gut. [gw]
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»Denn alles, was entsteht, ist wert, dass es zu Grunde geht«, lässt Goethe den Mephisto im Faust sagen. Sehr viel früher entsteht im Hinduismus die Vorstellung der höchsten Gottheit Shiva. Der Name bedeutet in etwa der Glücksverheißende. Shiva vereint Eigenschaften, die im Allgemeinen als Widersprüche wahrgenommen werden: Zerstörung und Neubeginn, männlich, weiblich, divers. Anfang und Ende.
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Ein im Münchener Kunstareal aufgespanntes Netz wie eine Hügellandschaft animiert während der Münchner Designwoche MCBW Flaneur·innen dazu, hinaufzuklettern und als Disruptoren seine Topografie zu verändern. In Zeiten von Umweltzerstörung und Klimawandel auch ein schönes Sinnbild für menschgemachte Deformationen der Natur – wäre da nicht der Faktor Elastizität: Während das Netz schnell wieder in seine Ursprungsposition zurückkehrt, ist das bei echten Disruptionen selten zu beobachten. Oder doch? Schaut man sich die Äonen von Jahren der Erdgeschichte an, so ist nicht nur die Entstehung unseres Universums – Urknall! – und unseres Planeten ein disruptives Ereignis, sondern auch die des Menschen. Wer glaubt, dass die Natur mit ihren Gesetzen und Konstanten ein Ruhepol der Kontinuität sei und die Entwicklung des Lebens evolutionär, übersieht, dass die extreme Langsamkeit des Ablaufs nur aus menschlicher Perspektive gilt. Aus universeller Warte ist unser Planet ausgesprochen dynamisch mitsamt der auf einer glühenden Flüssigkeit treibenden dünnen Platten, auf denen wir uns bewegen.
Bei Vulkanausbrüchen bekommen selbst wir etwas mit von den Urgewalten, die uns geschaffen haben, und wenn wir etwas auf der fruchtbaren Erde aus poröser Asche und Silikatschmelze anbauen, die uns solche Eruptionen hinterlassen, spüren wir etwas vom natürlichen Zusammenspiel aus Zerstörung und Wachstum, aus Disruption und Kreation. Nur wenige Naturschauspiele faszinieren Beobachter mehr als Vulkanausbrüche. Der Kilauea auf Hawai etwa vergießt göttliche Tränen, wenn herabtropfende Lava zu glänzenden Kügelchen erstarrt. Das fadenförmige Vulkanglas, zu dem der Wind die Lavafontänen auseinanderzieht, nennen die Vulkanforscher die Haare der Pele, Göttin des Feuers. Wissenschaftler lassen aber auch keinen Zweifel daran, dass die Natur, was sie geschaffen hat, wieder zerstören wird und in Milliarden von Jahren weitere dramatische Ereignisse unseren Planeten verwüsten – als Baustoff für etwas völlig Neues. [sib]
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In der Astrophysik kennt man den Begriff des Tidal Disruption Event, übersetzt als Gezeitenzerstörungsereignis. Dabei verirrt sich ein Stern in die Nähe eines supermassereichen Schwarzen Loches, sodass er durch dessen Schwerkraft auseinandergezogen wird und sich das Sternenmaterial wie ein leuchtender Fluss um das Schwarze Loch wickelt.
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Verstörung und Emanzipation |
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»Entweder ist die Mehrheit der Mitglieder dieser Vereinigung unheilbar geisteskrank, oder wir haben es mit einer Gruppe von skrupellosen Hochstaplern zu tun, die bestens um die Schwäche unserer Zeitgenossen für Sensationen wissen (…).« Nein, es handelt sich hier nicht um einen bösartigen Social-Media-Kommentar über die Last Generation, sondern um ein Zitat aus dem Jahr 1911. Veröffentlicht in den Münchener Neuesten Nachrichten, als deren Nachfolgerin sich übrigens die Süddeutsche Zeitung sieht. Was war geschehen? 1911 stellte die Neue Künstlervereinigung München ihre jüngsten Werke aus. Darunter ein gewisser Wassily Kandinsky, der mit seinem kleinformatigen Bild, das sogenannte Erstes abstrakte Aquarell größere Teile des geneigten Publikums zutiefst verstörte.
Die Grenzüberschreitung vom Gegenständlichen in die Abstraktion, die damals auch aus einer erspürten, inneren Notwendigkeit heraus geschah – freilich von anderen Küstler·innen vorbereitet – hat Kandinsky dann Jahre später in seinem Buch punkt und linie zur fläche auch theoretisch aufgearbeitet. Übrigens parallel zu seinem geistesverwandten Freund Arnold Schönberg, der annähernd zeitgleich den Schritt in die atonale und dann zur Zwölftonmusik gewagt hatte und mit seiner umfangreichen Harmonielehre ein Theoriewerk nachgereicht hat, in dem er angehenden Komponist·innen eine an der Tradition geschulte, handwerkliche Grundlage vermitteln wollte. Damit haben beide Künstler ein Paradigma geschaffen, das für das Kunstschaffen der Moderne bis heute bestimmend wurde und sich ganz gut an zwei Begriffen festmachen lässt: Dekonstruktion und Rekonstruktion. Tradition wird im Übergang zu einer neuen Gestaltungsweise dekonstruiert und in einem Prozess von Rekonstruktion wiederum dazu in Beziehung gesetzt. Was also in der Kunst als schroffer Bruch und jäh verstörendes, mithin disruptives Ereignis einer Art spontaneistischen Eruption missverstanden wurde und wird, ist zumeist tatsächlich prozesshaft. So wollte sich Schönberg auch nicht als Bürgerschreck, sondern »als Fortsetzer guter, alter, richtig verstandener Tradition« verstanden wissen. [um]
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Hochgradig disruptive Potenziale werden der derzeitigen, über alle Maßen gehypten KI-Entwicklung zugeschrieben. Ben Goertzel ist eines der großen Masterminds der KI-Forschung und Entwicklung - interessant, was dieses doch leicht verschrobene Genie, mit dem unverkennbaren Post-Beatnik-Style über KI und Kreativität zu sagen hat. Richtig interessant wird es ab Minute 08:31 - hier zu erleben.
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Veranstaltungen,
Ausstellungen und mehr aus dem Umfeld der 8daw-Redaktion |
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Olaf Leu – Das letzte Interview
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Design sollte ein Lächeln erzeugen! Zu, mit, von Olaf Leu, dem charismatischen Botschafter herausragender typografischer Qualität und Freund klarer Worte, ist jetzt die Publikation Das letzte Interview erschienen: Es dokumentiert das Mitte 2022 von der Typographischen Gesellschaft München (tgm) organisierte Gespräch mit Horst Moser und erweitert es um ein Interview anlässlich des 75-jährigen Jubiläums des Type Directors Club of New York (tdc) aus 2021 und um das Manuskript eines Vortrags, den er selbst für seinen wichtigsten hält: Achsenzeit. Den Texten sind umfangreiche Bilddokumentationen beigestellt, die Olaf Leus eigenes Schaffen in den Zusammenhang mit Arbeiten anderer großer Gestalterpersönlichkeiten seiner Zeit stellt. Fast alle davon kannte er persönlich, stellte sie vielfach in Vorträgen wie Die neue amerikanische Schule erstmals in Europa vor.
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Matinee mit Podiumsdiskussion in München: Design küsst Politik
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Wie schön wäre es doch, wenn die Designbranche mehr Einfluss in der Politik gewinnen würde und mit ihren kreativen Fähigkeiten zu einer offenen, vielfältigen Gesellschaft und lebenswerten Zukunft beitragen könnte. Und als »Enzym für Innovationen« Ökonomie und Nachhaltigkeit in Einklang bringt. In einer Matinee mit Podiumsdiskussion wird der erste Entwurf einer Design Policy für Deutschland vorgestellt und diskutiert. Nach einer Einführung in das Thema durch Boris Kochan erzählt der CEO von Good Design Australia, Brandon Gien, anschaulich davon, wie gut das in seinem Land bereits gelungen ist. Die wesentlichen Eckpunkte des Vorschlags, die anschließend zuerst auf dem Podium untereinander und dann mit dem Publikum diskutiert werden, stellt die Geschäftsführerin von bayern design, Nadine Vicentini, vor.
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In der 8daw-Ausgabe
BETA #13 vom 24. Juli 2020 haben wir uns unter anderem mit dem
Thema geschlechterspezifische Schreibweise beschäftigt. Im Ergebnis fanden
wir die Empfehlung eines Lesers für uns am geeignetsten: »Der Mittelpunkt
(MacOS: Shift+Alt+9; Windows: Alt+0183) wird eingesetzt wie der Asterisk *,
stört jedoch deutlich weniger den Lesefluss der Leser·innen,
weil er nicht nach Fußnoten ruft und auch keine Textlücken reißt wie der
Gender_Gap. Im Hinblick auf Lesbarkeit und Typografiequalität also eine
bessere Alternative, und inhaltlich – als Multiplikationszeichen
verstanden – treffend. Oder?« Wir stellen unseren Autor·innen jedoch
frei, ob sie den Mittelpunkt oder eine andere Form benutzen.
Alle personenbezogenen Bezeichnungen sind jedenfalls geschlechtsneutral
zu verstehen.
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8daw ist der
wöchentliche Newsletter von Boris Kochan und Freunden zu Themen rund um den
Wandel in Gesellschaft, Kultur und Politik, Unternehmen und Organisationen.
Er erscheint in Verbindung mit Kochan & Partner und setzt so die
langjährige Tradition der Netzwerkpflege mit außergewöhnlichen
Aussendungen in neuer Form fort. 8daw versteht sich als Community- und
Kollaborations-Projekt insbesondere mit seinen Leser·innen –
Kooperationspartner sind darüber hinaus zum Beispiel die GRANSHAN Foundation, die
EDCH Foundation, der Deutsche Designtag (DT), der BDG Berufsverband der Deutschen
Kommunikationsdesigner und die Typographische Gesellschaft München (tgm).
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Herausgeber und
Chefredakteur von 8daw sowie verantwortlich im Sinne des Presserechts
ist Boris Kochan [bk], Steinerstraße 15c,
81369 München, boriskochan.com,
zu erreichen unter boris.kochan@eightdaw.com oder +49 89 178 60-900
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in Verbindung mit Kochan & Partner
GmbH, Steinerstraße 15c, 81369 München, news@kochan.de
Redaktion: Ulrich Müller [um] und Gabriele Werner [gw]; Chefin vom Dienst/Lektorat: Sigrun Borstelmann [sib]; Regelmäßige Autoren: Markus Greve [mg], Sandra Hachmann [sh], Herbert Lechner [hel], Martin Summ [mas]; Illustrationen: Martina Wember [mwe]; Bildredaktion, Photo-Editing: Pavlo Kochan [pk]; Homepage und Newsletter-Technik: Pavlo Kochan [pk]; Basisgestaltung: Michael Bundscherer [mib]; Schriften: Tablet Gothic von Veronika Burian und José Scaglione sowie Coranto 2 von Gerard Unger, beide zu beziehen über TypeTogether; Versand über Mailjet.
Bildnachweis: Bilder: © Daria Fedorova Kalender Olaf Leu: © Michael Bundscherer
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