Zumeist wöchentliche Streifzüge mit Boris Kochan & Freund·innen rund um den Wandel in Gesellschaft & Kultur, Unternehmen & Organisa­tionen.

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ei8ht days a week – Streifzüge durch den Wandel

mit Boris Kochan und Freunden am 17. März 2023

 
 

{% if data:du_version:"" %}[[data:du_version]],{% elseif data:anrede == "Herr" %}Lieber Herr [[data:lastname]],{% elseif data:anrede == "Frau" %} Liebe Frau [[data:lastname]],{% else %}Sehr geehrte Damen und Herren,{% endif %}

»wenn ich sagen soll, was mir neben dem Frieden wichtiger sei als alles andere, dann lautet meine Antwort ohne Wenn und Aber: Freiheit.« Dieser Satz von Willy Brandt begegnet mir regelmäßig als große Gedenkwand in dem nach ihm benannten, sonst eher begrenzt funktionalen Berliner Flughafen. Im Originalkontext des Zitates heißt es weiter: »Die Freiheit für viele, nicht nur für die wenigen. Freiheit des Gewissens und der Meinung. Auch Freiheit von Not und von Furcht.«

Für Frieden und für Freiheit braucht es engagierten Schutz, gerade auch vor denjenigen, die so scheinbar harmlos einfordern: Meine Meinung werde ich doch wohl noch sagen dürfen! Schon 2006 steht in der Handreichung für die Öffentliche Auseinandersetzung der NPD geschrieben, es solle »im Bürgergespräch (…) auf die eklatante Einschränkung der Meinungsfreiheit (…) hingewiesen werden, um den BRD-Gesinnungsstaat zu delegitimieren.« Und auch, wenn es einen großen gesellschaftlichen Konsens darüber gibt, dass eine Demokratie wehrhaft sein muss, lohnt es sich, den nachdenklichen Fragen von überzeugten Pazifist·innen wie der leider gerade verstorbenen Theologin und ehemaligen Bundestagsvizepräsidentin Antje Vollmer zuzuhören: »Warum nur fand ausgerechnet Europa, dieser Kontinent mit all seinen historischen Tragödien und machtpolitischen Irrwegen, nicht die Kraft, zum Zentrum einer friedlichen Vision für den bedrohten Planeten zu werden?«. 

In ihrem heute wieder besonders lesenswerten Essay Das Leiden anderer betrachten bezieht sich Susan Sontag unter anderem auf Virginia Woolf: Was passiert, wenn Menschen unterschiedlichen Geschlechts (oder unterschiedlicher Herkunft) Fotografien vom Krieg betrachten? Auf ausgewählten Bildern aus dem spanischen Bürgerkrieg ist etwa zu sehen, »was der Körper eines Mannes sein könnte oder einer Frau; er ist so verstümmelt, dass er auch der Körper eines Schweines sein könnte. Aber das hier sind ganz gewiss tote Kinder, und das da ist unzweifelhaft der Schnitt durch ein Haus. Eine Bombe hat die Seite aufgerissen; immer noch hängt ein Vogelkäfig in dem, was vermutlich das Wohnzimmer war …« Die Reaktionen beider Betrachter sind eindeutig: »… unsere Empfindungen sind dieselben«, beide sprechen von »Entsetzen und Abscheu«, Krieg ist »eine Barbarei; Krieg muss um jeden Preis verhindert werden.« 

Was machen all die Bilder vom Krieg heute mit uns? Diese täglichen Berichte vom Frontverlauf? Natürlich verdrängt man, stumpft ab. Aber werden sie damit nicht erst recht zum Ausdruck einer inneren Verfasstheit? 

Mit nachdenklichen Grüßen

Boris Kochan


PORNOGRAFIE hat Klaus Staeck sein als Buch getarntes, im wahrsten Sinne des Wortes anstößiges Gesamtkunstwerk genannt, aus dem wir dankenswerterweise vier Abbildungen entnehmen durften, mit denen wir diese 8daw-Ausgabe über Bilder vom Krieg und Krieg der Bilder begleiten. Aus dem Begleittext des Steidl-Verlags, der die bereits 1970 am Werk abgeschlossene Arbeit 2007 (wieder) veröffentlicht hat: »Voyeure hereinspaziert, hier werden Erwartungen enttäuscht. Dieses Buch ist voller obszöner Bilder, aber im Verständnis des Philosophen Herbert Marcuse: Nicht das Bild einer nackten Frau ist obszön, sondern das eines Generals, der seine in einem Aggressionskrieg verdienten Orden zur Schau stellt. Es ist ein irritierendes Panoptikum der alltäglichen Gewalt: Pressefotos von Straßenkämpfen, nackten Kriegsopfern oder gefolterten Häftlingen folgen inszenierte Body-Art-Bilder und allerlei Fundstücke rund um Lust, Macht, Entblößung und Überwachung.«


 

 
Faszination, Entsetzen
 

Illustration von Martina Wember:

Gibt es irgendeinen Menschen, der versteht, was Krieg ist? Freilich, es gibt Meinungen, Erklärungen, selbst Erfahrungen, Berichte, Fotos, Kunst vom Krieg – von Albrecht Altdorfers Alexanderschlacht über Käthe Kollwitz’ Krieg bis Cy Twomblys Lepanto, von Dürers Die apokalyptischen Reiter über Goyas Die Schrecken des Krieges bis zu Picassos Guernica, um nur einige wenige zu benennen. Krieg tritt in vielfältigen Verkleidungen auf, als Held und Henker, Propagandawand und Zerstörungsmaschine, als Friedensmahner. Kann es überhaupt ein richtiges Bild vom Krieg geben? Unter dem Pseudonym Docteur Ralph erscheint 1759 Voltaires sarkastische Novelle Candide ou l’optimisme. Darin schreibt er: »Man kann sich nichts Schöneres, Tüchtigeres, Glänzenderes und Wohlgeordneteres vorstellen als die beiden Armeen! Die Trompeten, Hörner, Trommeln, Querpfeifen und Kanonen vollführten ein wahres Höllenkonzert. Zunächst mähten die Geschütze auf jeder Seite etwa sechstausend Mann nieder, dann befreite das Musketenfeuer die beste aller Welten von neun bis zehntausend Schurken, die sie bisher verpestet hatten, und endlich waren die Bajonette der zureichende Grund des Todes von einigen tausend Mann.«

Susan Sontag erzählt in ihrem Buch Das Leiden anderer betrachten vom Autor und Philosophen George Bataille.  Er hatte ein Foto von einem Gefangenen auf seinem Schreibtisch stehen, der gerade den Tod der hundert Schnitte erleidet. »Dieses Foto«, schreibt Bataille, »spielte in meinem Leben eine entscheidende Rolle. Mich hat dieses ekstatische und zugleich unerträgliche Bild des Schmerzes nie losgelassen.« Faszination, Entsetzen. In Umkehrung des bekannten Beuys-Zitats Jeder Mensch ist ein Künstler sagt Markus Kippenberger Jeder Künstler ist ein Mensch. Müssen wir anerkennen, dass die Liebe zur Grausamkeit ebenso zur Natur des Menschen gehört wie das Mitgefühl?

In der Nähe eines vom Krieg erschütterten Landes zu leben, ist nicht der Krieg. Aber es ist auch nicht der Friede. [gw]


 

 
Noch ein Jahrhundert der Gewalt?
 

Illustration von Martina Wember:

»Der Mensch bleibt der schlimmste Feind des Menschen«, so resümierte 2006 der britische Historiker Niall Ferguson seinen Rückblick auf das 20. Jahrhundert mit dem Titel Welt im Krieg. Ferguson, der in der Historikerzunft nicht ganz unumstritten ist, beschrieb darin das zurückliegende Jahrhundert als eines, das von Gewaltexzessen geprägt sei. Ein katastrophaler Befund, der sich für das 21. Jahrhundert bislang bruchlos fortschreiben lässt. An die dreißig bewaffnete Konflikte weltweit werden derzeit von verschiedenen, einschlägigen Forschungseinrichtungen gezählt, wobei die genaue Anzahl je nach Bewertungskriterien divergiert. Der Drogenkrieg in Mexiko etwa, mit seinen geschätzten bis zu 350.000 Toten, wird in manchen Statistiken unter Kriminalitätsbekämpfung gelistet, obwohl auch dort Militär zum Einsatz kommt.

Der Mensch als des Menschen schlimmster Feind: Ein vernichtendes Urteil, das Glauben machen könnte, es gäbe doch so etwas wie den freudschen Aggressionstrieb. Jüngere neurobiologische Erkenntnisse kommen jedoch zu einem ganz anderen Ergebnis. Demzufolge komme es bei aggressiven Handlungen psychisch gesunder Menschen nicht zur Ausschüttung von belohnenden Botenstoffen, wie etwa beim Sexualtrieb. Von einem Trieb sei per definitionem also nicht zu sprechen, meint der Neurobiologe Joachim Bauer in seinem Buch Schmerzgrenze. Die Forschungsergebnisse weisen im Gegenteil stark darauf hin, dass dem Menschen vielmehr Empathie und Kooperationsbereitschaft evolutionsgeschichtlich einbeschrieben sind, was schon aus Gründen der Arterhaltung plausibel erscheint. Ist der Mensch am Ende doch von Natur aus gut, wie der Historiker Rutger Bregman im Anschluss an Rousseau behauptet?

Illustration von Martina Wember:

Das Vorhandensein eines menschlichen Aggressionssystems wird von den Neurobiologen allerdings nicht geleugnet. Das jedoch ist primär auf Verteidigung und Selbsterhaltung aus – und es ist in hohem Maße störanfällig. Geht es um Krieg, dann gehören Desinformation und Propaganda im Gespann mit imaginierten Bedrohungen zu seinen ärgsten Feinden. Sapere aude!, wage es, dich deines (eigenen) Verstandes zu bedienen: Das alte Wort von Horaz bis Kant, es hat nichts von seiner Bedeutung eingebüßt. [um]

 

2016 wagte das Münchner Haus der Kunst unter seinem damaligen Direktor Okwui Enwezor ein einmaliges Experiment, das weltweit für Aufsehen sorgte: Postwar hieß die monumentale Ausstellung mit 350 Werken aus 65 Ländern, in der die Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs auf die weltweite Entwicklung der Kunst reflektiert wurde. Ein Video gibt immerhin einen Eindruck der Ausstellung, den hervorragenden Katalog mit seinen zahlreichen Abbildungen und vertiefenden Begleittexten kann es allerdings nicht ersetzen.


 

 
Das blinde Feld
 

Psst, hörst Du das auch? Riecht die Milch sauer? Schmeckt das Öl ranzig? Bei (fast) allen Sinneswahrnehmungen sind wir misstrauisch uns selbst gegenüber – unseren Augen aber vertrauen wir blind. Schließlich genügt ein undifferenziertes Knistern im Gebüsch als Warnung; ob sich da aber ein Vogel oder ein Tiger bewegt, das zu sehen ist ein lebenswichtiges Detail. Deshalb ist im menschlichen Gehirn ein extra großes Areal für das Visuelle vorgesehen – was nicht für die Qualität unseres Sehsinns per se spricht, sondern für die Komplexität der Reizverarbeitung. Schließlich muss im Zweifelsfall das kurze Aufblitzen eines schwarz-braun gestreiften Fellfleckens zur Identifikation genügen. Dann wird gefiltert, sortiert, nachgeschärft und der Pixelcocktail mit Stimmung, Persönlichkeit, Vorwissen und Lebenserfahrung gemixt, bevor wir uns in Sicherheit wiegen: Glaubend, was wir sehen, oder besser gesagt: Glaubend, was wir zu sehen glauben.

Illustration von Martina Wember:

Während wir aber im Prozess der Wahrnehmung unser Bild von der Welt modellieren, tun dies die Bilder im Gegenzug mit uns. Aus ihrer Betrachtung, sagt der Kunsthistoriker Horst Bredekamp in seiner Theorie des Bildakts, ergebe sich neben der Entfesselung der Einbildungskraft auch immer ein Gefangensein: Der in der Anschauung gewonnene Zuwachs »lässt die Welt anders aussehen als zuvor und zwar unabdingbar. Man kann nicht mehr zurück.« Dieses Nicht-mehr-zurück-Können erwächst bei Roland Barthes aus jenem der zwei koexistierenden Elemente der Bildbetrachtung, das neben dem sogenannten studium als Auslesen konventioneller Information wie Ort und Begebenheit der bedeutsamere Aspekt ist: das punctum, das plötzlich und unerwartet »wie ein Pfeil aus dem Zusammenhang hervor schießt, um mich zu durchbohren.« Das Etwas, das zum Foto gehört, aber doch auch vom Betrachter hinzugefügt wird als ein blindes Feld. »Die Anwesenheit [die Dynamik] dieses blinden Feldes ist es glaube ich, die das erotische Photo vom pornographischen unterscheidet.« In vielen Reportagefotos indes gebe es kein punctum, wohl »den Schock – das Buchstäbliche kann traumatisieren –, doch keine Betroffenheit; das Photo kann schreiend sein, doch es verletzt nicht. Diese Reportagephotos werden registriert (mit einem Blick), mehr nicht.« [sib]

 

Das Bildmotiv, das unsere Aufmerksamkeit am meisten fesselt, ist der Mensch. Das hängt damit zusammen, dass wir soziale Wesen sind, und als solche über eigene Hirnareale zur Gesichtserkennung verfügen. Da die Einordnung unseres Gegenübers in vertrauenswürdig oder gefährlich in Bruchteilen von Sekunden erfolgen muss, schauen wir auch beim Betrachten eines Porträts automatisch dorthin, wo wir die meisten relevanten Informationen erwarten: auf Augen und Mund. Was wir dabei entdecken, bewerten wir im Abgleich mit unseren Erfahrungen im Umgang mit Menschen, die wir – so sagt der Hirnforscher Antonio Damasio – sogar mit einem Körpergefühl, sogenannten somatischen Markern gekennzeichnet haben.


 

Fundstück der Woche
 
 
 

Wie eine Schlagader zieht sich das goldene Band zwischen der Piazza Aristide Sciacca und der Piazza Lanuvio durch den in den sizilianischen Hügeln der Provinz Enna liegenden Ort Centuripe. Sara Zaninis Drohnen-Blick offenbart die zutiefst menschliche Ausprägung des auf 730 Meter Höhe gelegenen Dorfes mit langer Geschichte.


 
 
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In der 8daw-Ausgabe BETA #13 vom 24. Juli 2020 haben wir uns unter anderem mit dem Thema geschlechter­spezifische Schreib­weise beschäftigt. Im Ergebnis fanden wir die Empfehlung eines Lesers für uns am geeignetsten: »Der Mittel­punkt (MacOS: Shift+Alt+9; Windows: Alt+0183) wird eingesetzt wie der Asterisk *, stört jedoch deutlich weniger den Lese­fluss der Leser·innen, weil er nicht nach Fußnoten ruft und auch keine Text­lücken reißt wie der Gender_Gap. Im Hinblick auf Lesbarkeit und Typografie­qualität also eine bessere Alter­native, und inhaltlich – als Multiplikationszeichen verstanden – treffend. Oder?« Wir stellen unseren Autor·innen jedoch frei, ob sie den Mittel­punkt oder eine andere Form benutzen. Alle personen­bezogenen Bezeichnungen sind jedenfalls geschlechts­neutral zu verstehen.


8daw ist der wöchentliche News­letter von Boris Kochan und Freunden zu Themen rund um den Wandel in Gesellschaft, Kultur und Politik, Unternehmen und Organisationen. Er erscheint in Verbindung mit Kochan & Partner und setzt so die lang­jährige Tradition der Netzwerk­pflege mit außer­gewöhnlichen Aus­sendungen in neuer Form fort. 8daw versteht sich als Community- und Kollaborations-Projekt insbesondere mit seinen Leser·innen – Kooperations­partner sind darüber hinaus zum Beispiel die GRANSHAN Foundation, die EDCH Foundation, der Deutsche Designtag (DT), der BDG Berufsverband der Deutschen Kommunikations­designer und die Typographische Gesellschaft München (tgm).

 

Herausgeber und Chefredakteur von 8daw sowie verantwortlich im Sinne des Presserechts ist Boris Kochan [bk], Steinerstraße 15c, 81369 München, boriskochan.com, zu erreichen unter boris.kochan@eightdaw.com oder +49 89 178 60-900 (facebooktwitterinstagram)
in Verbindung mit
Kochan & Partner GmbH, Steinerstraße 15c, 81369 München, news@kochan.de

Redaktion: Ulrich Müller [um] und Gabriele Werner [gw]; Chefin vom Dienst/Lektorat: Sigrun Borstelmann [sib]; Regelmäßige Autoren: Markus Greve [mg], Sandra Hachmann [sh], Herbert Lechner [hel], Martin Summ [mas]; Illustrationen: Martina Wember [mwe]; Bildredaktion, Photo-Editing: Pavlo Kochan [pk]; Homepage und Newsletter-Technik: Pavlo Kochan [pk]; Basisgestaltung: Michael Bundscherer [mib]; Schriften: Tablet Gothic von Veronika Burian und José Scaglione sowie Coranto 2 von Gerard Unger, beide zu beziehen über TypeTogether; Versand über Mailjet.


Bildnachweis:

Bilder @ STAECK


Ausgabe: #102
Erschienen am: 17. März 2023 [KW11]
Thema: Bilder vom Krieg und Krieg der Bilder


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