ei8ht days a week – Streifzüge durch den Wandel
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mit Boris Kochan und Freunden am 15. Dezember 2024 |
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Sehr geehrte Damen und Herren,
»ich möchte mich an das Glück erinnern, nicht an die Trauer« – der Film First Frames, in dem diesen Satz ein syrisches Flüchtlingskind zum rumänisch-amerikanischen Dokumentarfilmer Ilie Mitaru sagt, hat treffenderweise den Untertitel Ein Film über den Mann, der durch Fotografie Hoffnung verbreitet. Über Wochen hat er den Fotografen Serbest Salih begleitet, der mit seiner mobilen Dunkelkammer analogen Fotografieunterricht in abgelegene Gemeinden an der Grenze zu Syrien bringt. Die Kinder, zumeist Flüchtlingskinder, erzählen im Film von ihren Erinnerungen und ihren Freundschaften, ihrer Neugier und ihren Frustrationen … während sie sich zum ersten Mal mit Fotografie beschäftigen. Einige der fotografischen Ergebnisse begleiten diese 8daw-Ausgabe. Zwischen Freude, Angst und Hoffnung schwanken unsere syrischen Freunde, nicht nur, aber ganz besonders in Deutschland: Welch eine bodenlose Frechheit ist es, nicht zur Besonnenheit aufzurufen ob der Ereignisse in Syrien, sich mitzufreuen und vielleicht sogar über Unterstützung für das Land nachzudenken … sondern am Tag nach dem Sturz Assads über Rückführung zu schwadronieren. 1.000 Euro Handgeld und Freiflug sind ein scheinbar griffiges, ein vergiftetes Angebot – es setzt den Ton: Weg mit ihnen! Populismus pur. Das Erstaunliche an all dem ist, dass der nicht nur heimliche Wunsch nach einer neuen Gegenkultur inzwischen ganz anders besetzt ist. Er wird von denjenigen betrieben, die so gar nichts mit Aufbruch und Erneuerung, Demokratie, Freiheit und Frieden am Hut haben. Was mich an einen Artikel von Durs Grünbein in der ZEIT erinnert: »Es ist lange her, da tauchte in öffentlichen Debatten zum ersten Mal das Wort Gutmensch auf und machte seltsamerweise sofort als Schimpfwort die Runde.« Die Umwertung der Silbe gut leistet »seither einer ethischen Desorientierung Vorschub«. Political Correctness wurde zum gegenseitigen Kampfbegriff, in der Forderung nach – wie der Abwehr von – politischer Sprachkritik. Jede »Regung der Humanität, der Solidarität oder schlicht der christlichen Nächstenliebe« steht mittlerweile unter Verdacht. Wie eben auch die grundgesetzkonforme Aufnahme von politischen Flüchtlingen … Begegnen lässt sich dem nur mit Hoffnung. Mit Zuversicht. Mit Zukunft – und damit mit Kindern – wie eben jenen, die zu Ilie Mataru in seinem Film sagen: »Selbst wenn etwas schlecht ist, kann ich es schön machen.« Herzlich Boris Kochan
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Foto von Elife, 14 Jahre alt
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»Hey, think the time is right for a palace revolution« – eine Zeile eines Songtextes, der als Reaktion auf die Niederschlagung der Assad-Tyrannis geschrieben sein könnte. Tatsächlich haben die Rolling Stones ihren Street Fighting Man aber schon im Frühsommer 1968 aufgenommen, als junge Menschen diesseits und jenseits des Atlantiks sich daran machten, gegen das Establishment zu rebellieren und neue Formen des Zusammenlebens zu erproben. Eine direkte Parallele zu den Geschehnissen in Syrien zu ziehen, verbietet sich daher. Vielmehr soll an ein historisches Ereignis erinnert werden, das sich vor wenigen Tagen, am 6. Dezember zum 55. Mal gejährt hat, als beim Altamont Free Concert der radikal pazifistische Ausläufer der 68er Bewegung, seine Unschuld verlor: Hippies wurden sie genannt, in Deutschland gerne Blumenkinder, oder sie wurden als Gammler beschimpft: All jene, die sich locker unter dem bunten Banner der Flower-Power-Bewegung versammelt hatten.
Make Love not War, war – vor dem Hintergrund des Vietnam-Krieges – ihr Slogan, der Summer of Love 1967 ihre Blütezeit und das Woodstock-Festival vom August 1969 ihr Hochamt. Vier Monate später wollte man das in Altamont wiederholen, doch das Festival ging in einem tödlichen Gewaltexzess der Hells Angels unter, die ausgerechnet von der Vorzeige-Hippie-Band The Grateful Dead als Ordner vorgeschlagen worden waren. Mittendrin wiederum die Rolling Stones, wie in der eindrücklichen, streckenweise auch verstörenden Dokumentation Gimme Shelter festgehalten ist.
Erosionserscheinungen hatte es in der Hippie-Kultur freilich schon vorher gegeben. Etwa die Schockwelle als 5 Tage vor dem Festival bekanntgegeben wurde, dass die furchtbaren Tate-LaBianca-Morde von Mitgliedern der Manson Family begangen worden waren. Bis dahin schien Charles Manson trotz seiner Knast-Karriere doch ein waschechter Hippie zu sein: Ein Möchtegern-Singer-Songwriter aus schwierigen Verhältnissen, der gelegentlich sogar in Pop-Kreisen bis hin zum Drummer der Beach Boys verkehrte, der jedoch sein wahres Gesicht als perverser Kommunen-Diktator und Serienmörder lange zu verschleiern wusste. »Ich spürte, wie wichtige Anregungen der 1960er sich in Staub auflösten«, schrieb der Chronist der Gegenkultur Ed Sanders konsterniert, als dieser Schleier fiel. Da hatte sich das Epizentrum jener Gegenkultur, das Hippie-Viertel Haight-Ashbury in San Francisco auch schon längst an vielen Stellen in einen veritablen Sumpf verwandelt, überschwemmt von Drogendealern und Kleinkriminellen. So also endete vor 55 Jahren die Flowerpower-Ära. Make Love not War mag heute vielleicht naiv klingen, aber hat es deswegen auch an Sinnhaftigkeit eingebüßt? [um]
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Der Poet, Journalist und Musiker, Ed Sanders war so etwas wie ein Chronist der Gegenkultur. Seine akribische Aufarbeitung der Geschichte der Manson Family, The Family. Die Geschichte von Charles Manson und seiner Strand-Buggy-Streitmacht, ist auch ein Zeitdokument der Hippie-Ära – bis hin zum Schreibstil, der heutigen Leser·innen gelegentlich ziemlich gewöhnungsbedürftig erscheinen mag. Für alle, die mehr über die düstere Seite dieser sogenannten Gegenkultur erfahren wollen, ist dieses Buch jedoch eine unverzichtbare Quelle.
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Foto von Gizem, 12 Jahre alt
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Was, wenn aus Menschen Monster geworden sind? Menschenfresser, Weltzerstörer, totalitäre Tyrannen? Wenn nicht einmal ein Vogel mehr Heimat findet, die Erde ausgezehrt, blutverkrustet verwüstet ist? »Der absurde Philosoph kämpft noch, er wälzt unablässig seinen Felsblock den Hügel hinauf, auch wenn er weiß, dass er den Gipfel nie erreichen wird«, schreibt der Theologe Ron Kubsch in seiner Publikation Vom Ende der großen Erzählungen.
85-jährig hat die französische Regisseurin und Direktorin des Théatre du Soleil, Ariane Mnouschkine, das Epos Hier sind die Drachen auf die Bühne gebracht (zu sehen bis 27. April 2025 im Pariser Théâtre du Soleil). Sie durchdringt politisch-gesellschaftlich und historisch Vorgegebenes mit zartem, sinnlichem wie furiosem Zauber und entfacht so die Verwandlungskraft des Theaters, das auf die soziale Wirklichkeit Einfluss nehmen will. Die Drachen in ihrem neuesten Werk, das sind die Tyrannen des 20. und 21. Jahrhunderts, die reine Machtgier treibt. Sie wollen nicht nur die Welt erobern, sondern Welt und Menschen nach ihrem Willen formen. Im Programmheft schreibt die Autorin Hélène Cixous: »Die Erzählungen der Geschichte beginnen immer mit einem Krieg, einer Revolution, dem Ende und dem Beginn einer Welt. Der trojanische Krieg und der Weltkrieg. Welcher war es? Der erste, der zweite, der dritte? Ein Kaiser metzelt ein Volk nieder. Ein Volk erhebt sich, flieht. Ein König wird getötet. Ein französischer? Ein russischer? Oder ein griechischer? Vorher. Morgen früh.« [gw]
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Mit mutigen Texten voll lyrischer Intensität stellt sich der russische Poet Ossip Mandelstam gegen Stalin, den Diktator. »Wie Himbeeren schmeckt ihm das Töten…«, schreibt Mandelstam 1934 im Stalin-Epigramm. Im selben Jahr wird er verhaftet, verhört, gefoltert, in mehrjährige Verbannung geschickt, wieder freigelassen, wieder verhaftet. Fünf Jahre Zwangslager. Dort stirbt er 1938 an Typhus. Mandelstam schreibt: »… aus trüber Schwere / Werd ich, auch ich, sie schaffen – Schönheit und Gestalt.«
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Foto von Rojin, 14 Jahre alt
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Durch die Tür hinaus, zur linken Reihe, jeder nur ein Kreuz ... |
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Wasser is wos Liadaliches, sagt man in Bayern und meint damit etwas, das gern die Regeln bricht. Rohrleitungsbruch-Geschädigte kennen das Phänomen, dass Wasser schon mal bergauf fließt, Feuchte überall hineinkriegt und lange unerkannt ihr dekonstruktivistisches Unwesen treibt. Nichts anderes tut der Humor, was seiner etymologischen Herleitung vom lateinischen humor, Feuchtigkeit, die sich cum grano salis eigentlich auf Galens Temperamentenlehre als körperliche Gestimmtheit gemäß der inneren Säfte bezieht, auch eine funktionelle Richtung weist: Humor zersetzt das festgefügte Mauerwerk der Lebenswidrigkeiten, aber auch der vermeintlichen Gewissheiten, die den Einzelnen gefangen halten. Gesellschaftlich betrachtet wird er zur subtilen Gegenströmung, indem er mit spielerischer Heiterkeit analgesierend ungestraft Schmerzpunkte berührt, die ansonsten arg weh tun würden.
Dass die maximale Ausprägung dieser Fähigkeit, der britische Humor, ausgerechnet als trocken bezeichnet wird, drückt den absoluten Willen zur Absurdität aus, die ihm eine – für den deutschen Geschmack oft grausame – Direktheit erlaubt. Meister dieses Fachs ist die Komikergruppe Monty Python, die aus dem britischen Satireboom der 60er-Jahre hervorging und ausgehend von ihrer Comedy-Serie Monty Pythons Flying Circus mit respektlosen Sketchen und Filmen Kulturgeschichte schrieb. Ihr Kinofilm Das Leben des Brian stand unter Blasphemie-Verdacht, sie verspotteten jegliche Kriegslogik durch Erfindung des sogenannten Killer-Jokes und veralberten in The Mouse Problem die Heteronormativität – gesellschaftlich relevante Themen, die für sie aber gar nicht so im Fokus standen. Es ging um Größeres: Die Pythons stellten sämtliche TV-Regeln auf den Kopf, durchbrachen die Serialität, setzten Verfremdungseffekte bis zur Groteske ein oder machten ein Stück Holz zum Interviewpartner einer Talkshow. Es ging um die Demontage des gerade aufblühenden Mediums Fernsehen, um den Zuschauern bewusst zu machen, dass sie vor dem Bildschirm nichts weiter rezipieren als eine Fiktion – mediale Aufklärung also, allerdings nur für diejenigen Konsumenten, die ohnehin reflektiert genug sind, sich ein eigenes Bild zu machen. [sib]
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Foto von Zeynao, 13 Jahre alt
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Veranstaltungen,
Ausstellungen und mehr aus dem Umfeld der 8daw-Redaktion |
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Das Thema der 38. Leipziger Grafikbörse heißt Spiel-Räume. Die Ausstellung im Museum für Druckkunst Leipzig präsentiert zeitgenössische Grafiken in diversen Techniken und Formaten. Die 87 Künstler·innen aus Deutschland, Frankreich, der Ukraine und den Niederlanden greifen das Thema ganz unterschiedlich auf: Besucher können physische Spiel-Räume entdecken, die Spielsachen, Spielplätze, Landschaften oder einfach Räume zeigen. Eine metaphorische Ebene bekommt das Thema, wenn das Papier zum Spiel-Raum wird, auf dem ein Möglichkeitsraum für die Kunstschaffenden entsteht. Diese grafischen Assoziationen verdeutlichen die Vielfalt des Themas. Der Leipziger Grafikbörse e.V. fördert seit 1991 die zeitgenössische Druckgrafik und sorgt mit Ausstellungen, Publikationen und Veranstaltungen für deren Sichtbarkeit.
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Die meisten der nach wie vor begehrten Bauhaus-Möbelentwürfe werden heute von den drei Firmen Knoll International, Tecta und Thonet produziert. Neben den Originalen gibt es lizensierte Re-Editionen, darüber hinaus existiert ein großer Markt an nicht autorisierten Kopien. Hier setzt die Arbeit des in China geborenen und in Österreich aufgewachsenen Künstlers Jun Yang an: In einer als dauerhafte Präsentation angelegten Ausstellung, stattete Jun Yang verschiedene Räumen im historischen Bauhausgebäude in Dessau mit berühmten Bauhaus-Möbeln unterschiedlichster Herkunft aus. Mit seiner Arbeit eröffnet Yang einen Diskurs über den Umgang mit dem Erbe Bauhaus, dessen Fortleben, aber auch über Transfers vom Industriemöbel zur Designikone, zur Kopie, zum Fetisch sowie von der rechtlich geahndeten Raubkopie zum Kunstwerk.
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Jakob Grosse-Ophoff gestaltet kinetische Skulpturen. Das hier als GIF gezeigte Werk Humanity ist dabei ein so simples wie großartiges Werk über Selbstreflexion, Verzweiflung wie Gegen-Kultur.
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Seit der 8daw-Ausgabe BETA #13 vom 24. Juli 2020 haben wir für auf uns auf Empfehlung eines Lesers entschieden: »Der Mittelpunkt (MacOS: Shift+Alt+9; Windows: Alt+0183) wird eingesetzt wie der Asterisk *, stört jedoch deutlich weniger den Lesefluss der Leser·innen, weil er nicht nach Fußnoten ruft und auch keine Textlücken reißt wie der Gender_Gap.« Wir stellen unseren Autor·innen jedoch frei, ob sie den Mediopunkt oder eine andere Form benutzen. Alle personenbezogenen Bezeichnungen sind jedenfalls geschlechtsneutral zu verstehen.
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Herausgeber und Chefredakteur von 8daw sowie verantwortlich im Sinne des Presserechts ist Boris Kochan [bk], Steinerstraße 15c, 81369 München, boriskochan.com, zu erreichen unter boris.kochan@eightdaw.com oder +49 89 178 60-900 in Verbindung mit Kochan & Partner GmbH, Steinerstraße 15c, 81369 München, news@kochan.de
Redaktion: Ulrich Müller [um] und Gabriele Werner [gw]; Chefin vom Dienst/Lektorat: Sigrun Borstelmann [sib]; Kalender: Antje Dohmann [ad]; Regelmäßige Autoren: Markus Greve [mg], Sandra Hachmann [sh], Herbert Lechner [hel], Martin Summ [mas]; Illustrationen: Martina Wember [mwe]; Bildredaktion, Photo-Editing: Pavlo Kochan [pk]; Homepage und Newsletter-Technik: Pavlo Kochan [pk]; Basisgestaltung: Michael Bundscherer [mib]; Schriften: Tablet Gothic von Veronika Burian und José Scaglione sowie Coranto 2 von Gerard Unger, beide zu beziehen über TypeTogether; Versand über Mailjet.
Bildnachweis: @ FOTOHANE DARKROOM DERNEĞİ Kalender, Abbildung 2: Stiftung Bauhaus Dessau / Foto: Thomas Meyer / OSTKREUZ
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Ausgabe: #142
Erschienen am: 15. Dezember 2024 [KW50]
Thema: Gegenkultur und Illusion
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