ei8ht days a week – Streifzüge durch den Wandel
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mit Boris Kochan und Freunden am 14. Juli 2023 |
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Sehr geehrte Damen und Herren,
»meine Arbeit besteht in der Suche nach Schönheit, Schönheit der Tragödie, Schönheit des Schreckens« hat die Pariser Theaterlegende Ariane Mnouchkine einmal in einem Lettre-Gespräch mit Eugenio Barba unter dem Titel Der Preis der Erfahrung – Ein Theater der Zärtlichkeit und der Schönheit gesagt: »Wir sind dazu da, uns gegenseitig Kräfte zu verleihen. Sinn zu geben, uns zu lieben. Das Theater, die Zärtlichkeit, die menschlichen Gefühle lebendig zu erhalten, gegen eine infernalische Maschine.« An sie und ihr Theaterkollektiv Théâtre du Soleil musste ich gestern, am französischen Nationalfeiertag des Sturms auf die Bastille denken, an ihre Inszenierung 1789, in der Zuschauer und Schauspieler zu einer einzigen großen gemeinsamen Bewegung verschmelzen und die erstaunliche Kraft von liberté, égalité, fraternité zelebrieren. Denn, so Mnouchkine: »Gleichgültigkeit oder Zynismus sind in jedem Fall eine Todsünde.« Genau diese Todsünde fliegt der Grande Nation gerade um die Ohren, die Herablassung gegenüber einem immer größer gewordenen Teil ihrer französischen Staatsbürger (mit Migrationshintergrund, wie das so wohlfeil in Deutschland heißt), den so sinnfällig in die Vorstädte, die Banlieues, Ausgegrenzten. Wie überall in Frankreich findet sich auch an den öffentlichen Gebäuden der Bannmeilen der Wahlspruch der fünften Republik, und spricht der postulierten Idee von Gleichheit und insbesondere Geschwisterlichkeit Hohn. Vielleicht müssen wir alle wieder mehr ins Theater gehen und so mit Mnouchkine dafür sorgen, dass »keine Melodie, kein Lied, kein Stück, kein Gedicht verloren geht«. Ich wünsche Ihnen große, eine so unvernünftige wie vernünftige Lust auf Poesie an diesem heißen Wochenende! Boris Kochan
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»Germaine Richier ist die vielleicht ganzheitlichste Künstlerin, die sowohl über technisches Können wie auch über eine überwältigende, absolut überzeugende poetische Vorstellungskraft verfügt« hat der französische Schriftsteller Jean Cassou über sie schon 1956 geschrieben. Als ich im Mai in Paris war, habe ich ihre Arbeiten in einer leider schon zu Ende gegangenen Ausstellung im Centre Pompidou wieder entdeckt. Ihre Werke begleiten und bereichern dankenswerterweise diese 8daw-Ausgabe mit sehr persönlichen und fantastischen Spaziergängen durch Paris …
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L'Echiquier [Grand], 1959
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Gabriele Werner tanzt in Paris |
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137 Brücken führen über die Seine in Paris. Sie verbinden die beiden Uferseiten, denen trotz mehrfacher Übermalung bis heute ein Klischee innewohnt: Rechts residieren die Macht und das Geld, links wohnen Kunst und Intellektualität. Logisch, dass das Fashion-Genie Yves Saint Laurent seine erste Prêt-à-porter-Boutique Rive Gauche nennt. Hier gibt es Kollektionen in Standard-Größen. Sie bahnen den Weg aus der glamourösen Umklammerung der maßgeschneiderten Haute Couture. Am rechten Seine-Ufer liegt die prachtvolle Opéra Garnier, Spielplatz des Phantoms der Oper, Rudolf Nurejews erster Fluchtsort im Westen und Heimat des Ballett-Ensembles der Pariser Oper. Große Freude: ihr auf YouTube festgehaltenes Quarantänetraining Stay at home zu Coronazeiten. Für das Ballett Bolero entwirft ein Deutscher in Paris die Kostüme. Im Foyer de la Dance, dem Künstler-Foyer hinter der Bühne, entstehen Edgar Degas’ unsterbliche Skizzen und Gemälde junger Tänzerinnen. Dass das Foyer zu Degas’ Zeiten auch als Bordell genutzt wird, soll nicht verschwiegen werden. Überhaupt, die Liebe, der Tanz. Der italienische Regisseur Bernardo Bertolucci inszeniert mit Der letzte Tango in Paris ein radikales, melancholisches Melodram über Liebe, Sex und Tod – seinerzeit ein Riesenskandal. Dem argentinischen Jazz-Saxophonisten Gato Barbieri gelingt eine Filmmusik, die die dramatischen Bilder trägt. Hier spielt er eine Komposition von Carlos Santana, Europa.
Hinaus aus der Stadt: In den Banlieues kocht es. Im Hip-Hop, Breakdance und Rap brechen sich die Gefühle der jungen Generation Bahn. Sie spiegeln die menschenunwürdigen Zustände in den Ghettos, die geprägt sind von Arbeitslosigkeit, Kriminalität, Aggression, Diskriminierung und Resignation. Ausgegrenzt, ungehört schaffen sich hier die Jungen ihren eigenen Kosmos mit eigener Sprache, Ausdrucksform, Regeln und eigenen Anführern. [gw]
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Wer sich selbst dem Tanz in Paris hingeben will: Am Freitag und Samstag im Sommer verwandelt sich das südliche Seine-Ufer beim Jardin Tino Rossi in eine Open-Air-Tanzarena. In jeder der Buchten wird etwas Anderes getanzt; Tango, Salsa, Rock'n'Roll, Cha-Cha-Cha ... den Crémant bringt jeder selbst mit.
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Mindestens in Frankreich meint das Wort Le Parisien, der Pariser, den kompletten Kerl, nicht etwa ein Utensil für eines seiner Teilbereiche. Wer dort Pariser braucht, fragt besser nach préservatifs oder capotes anglaises – englische Kapuzen. In Deutschland hingegen kann der Begriff Pariser durchaus zur Aushändigung des gewünschten Artikels führen. Im Gegensatz zum Londoner, dessen Bezeichnung auf den Herstellernamen London zurückzuführen ist, leitet sich der Pariser vom Artikelnamen des Ende des 19. Jahrhunderts im Pariser Maison A. Claverie verkauften Produkts her. Le Parisien gab es aufgerollt und aus dehnbarem Gummi. Frühere Modelle waren meist aus Tierblasen oder -därmen hergestellt – wie auch das zuletzt versteigerte Modell aus dem 18. oder 19. Jahrhundert. Auch ein Paar Wiener oder Frankfurter stecken im Schafsdarm, haben aber ansonsten mit der hier besprochenen Thematik nichts zu tun.
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Sigrun Borstelmann geht mit Mona Lisa spazieren |
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Das berühmteste Gemälde der Welt im berühmtesten Museum der Welt: Statt Liberté atmet Mona Lisa hier die feuchtigkeits- und temperaturregulierte Luft einer Glasvitrine. Vermutlich hat sie nichts Spannendes mehr gesehen, seit sie 1804 aus dem Schlafzimmer Napoleons in den Louvre umzog, außer einem zweijährigen Ausflug unter das Bett des italienischen Patrioten Vincenzo Peruggia, der sie 1911 den Museumsmauern entriss, um sie in die gemeinsame Heimat zurückzuführen. So nimmt sie meinen Vorschlag einer kleinen Tour durch Paris begeistert an: »Oh ja, nach Marais!« Natürlich, naheliegend, denke ich, sicher will sie ins Centre Pompidou, das sich mit dem Brunnen, dem berühmten Urinal des Dadaisten Duchamp, schmückt, der auch ein Ready-made der Mona Lisa mit Schnurrbart und den Buchstaben L.H.O.O.Q. versah. (Spricht man die Buchstaben französisch aus, ergibt sich daraus die unflätige Bezeichnung für promiskuitive Frauen: Elle a chaud au cul – zu Deutsch etwa: Sie hat einen heißen Hintern.)
Aber nein, die befreite Mona Lisa möchte auf Selbstfindungstrip ins Le Marais, sie möchte die Schwulenszene erkunden, in die Louvregärten, in deren labyrinthischen Wegen sich homosexuelle Männer verabreden, in dieses Gay-Viertel schlechthin, wo sich Europas größte LGBTIQ*-Szene trifft. Sie möchte einmal durch die engen Gassen mit ihren Nachtclubs, Bars, Cafés streifen, die trendy Boutiquen sehen. Sie, das wohl meistdurchleuchtete und sezierte Werk der Kunstgeschichte, ohne dass jemand das Geheimnis ihrer Identität je gelüftet hätte, sie ist auf der Suche nach sich selbst: Ist sie Lisa del Giocondo, Pacifica Brandani, Isabelle d’Éste, Catarina Sforza, gar ein Selbstporträt da Vincis oder das Abbild seines mutmaßlichen Geliebten Gian Giacomo Caprotti, alias Salaí? Steht Mona Lisa anagrammatisch für Mon Salai?
Dank der Sfumato-Maltechnik, die ohne Umrisse auskommt, wirkt ihr Körper so plastisch, dass sie im bunten Gedränge vollkommen natürlich in der Masse der Menschen um sie herum aufgeht. Ihre Blicke schweifen so haltlos umher, dass sich unmöglich ergründen lässt, wohin sie gerade schaut. Weiß sie nun endlich, wer sie ist? Als sie zurückkehrt von unserem kleinen Ausflug, liegt ein geheimnisvolles Lächeln auf ihrem Gesicht … [sib]
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Buste N° 12 [Armadillo], 1933-34
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Ulrich Müller über sein Paris |
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Paris ist morgens am schönsten, wenn die Luft noch frisch ist, die Rinnsteine noch feucht vom Wasser, mit dem der Müll des vergangenen Tages weggeschwemmt wurde, und ganz allmählich in den Läden und Cafés der Alltag erwacht. Wie jeden Morgen hat mir auf meinem Spaziergang hinunter in die Innenstadt der algerische Schuhmacher, dem ich meine ausgelatschten Schuhe gebracht hatte, von der anderen Straßenseite zugewunken – ein Gefühl angekommen zu sein; zumindest hier oben, in dem bescheidenen, aber umso bunteren Viertel am Fuße des Montmartre.
Wie wenig selbstverständlich das in Paris zumindest noch vor etwas mehr als dreißig Jahren war, musste ich gleich am zweiten Tag meiner Ankunft erleben. Im Zug war eines meiner Gepäckstücke aufgebrochen worden und ich musste zur Schadensstelle der SNCF, der französischen Bahn, in eines der damals schon berüchtigten Banlieues hinter dem futuristischen Businessviertel La Defense. Aus dem behüteten München kommend ein ziemlicher Schock: Ganze Wohnblöcke fensterlos, Familien auf verschlissenen Decken auf der Straße lebend, Grüppchen junger Männer an beschmierte Hauswände gelehnt, den Eindringling argwöhnisch beobachtend – Armut, blanke Not, Hoffnungslosigkeit und Wut. Wenn es heute in den Straßen von Paris brennt, muss ich immer wieder an diese Szene denken und an den Gedanken, der mich damals beschlich, dass die Opfer der französischen Kolonialherrschaft und einer gründlich gescheiterten Integrationspolitik sich auf Dauer nicht still in ihr Schicksal ergeben würden. Wieder zurück am Centre Pompidou im Herzen der Stadt, wo ich Stipendiat am Musikinstitut IRCAM war, ging es anfangs für den schüchternen Gast aus Deutschland auch nicht unbedingt gemütlich zu. Deutsche gehörten damals nicht gerade zu den Lieblingsnachbarn der Pariser, besonders, wenn sie des Französischen nicht wirklich mächtig waren. Glücklicherweise gab es meinen Schuhmacher. Mittags traf er sich immer mit ein paar Kollegen in einem benachbarten Café, in dem ich auch gelegentlich verkehrte. Irgendwann kamen wir ins Gespräch; woraus viele Gespräche wurden und für mich die Gelegenheit, meine Sprachkenntnisse aufzupolieren. Wenn ich heute mit heimatlichen Gefühlen an Paris denken kann, dann verdanke ich das vor allem der Herzlichkeit, der Geduld und nicht zuletzt auch dem Humor dieser nordafrikanischen Handwerker. Aber genau das ist eben auch Paris. [um]
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Paris ist eine der großen Musikmetropolen der Welt. Vom Barock bis zur Avantgarde wurden hier die neuesten Werke der jeweiligen Epoche aufgeführt und nicht selten sorgte das auch für handfeste Skandale, wie etwa die Uraufführung von Strawinskys Le sacre du printemps, einer der größten Skandale der Musikgeschichte. Die große musikalische Geschichte der Stadt lässt Jens Rostock in seinem lesenswerten Buch Schauplatz Musik: Paris - Die Stadt und ihre Musik auferstehen.
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Rosetta Tharpe ist die absolute Mutter des Rock'n'Roll, eine einzige Sinfonie aus Gospel, Jazz und Blues. Sie spielte die Gitarre, als würde sie mit den Saiten flirten, ihre Stimme eroberte die Welt im Sturm. Irgendwo zwischen Heiligkeit und Rebellion, zwischen Hingabe und Aufbegehren, schafft sie eine Spannung, die bis heute nachhallt. Ein großer Tanz aus Tönen und Emotionen, der herausfordert, unsere Vorstellungen von Musik und Geschlechterrollen zu hinterfragen. Und erinnert ihr Stil nicht irgendwie an die Unerschrockenheit von Janis Joplin auf dem Monterey Pop Festival?
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In der 8daw-Ausgabe
BETA #13 vom 24. Juli 2020 haben wir uns unter anderem mit dem
Thema geschlechterspezifische Schreibweise beschäftigt. Im Ergebnis fanden
wir die Empfehlung eines Lesers für uns am geeignetsten: »Der Mittelpunkt
(MacOS: Shift+Alt+9; Windows: Alt+0183) wird eingesetzt wie der Asterisk *,
stört jedoch deutlich weniger den Lesefluss der Leser·innen,
weil er nicht nach Fußnoten ruft und auch keine Textlücken reißt wie der
Gender_Gap. Im Hinblick auf Lesbarkeit und Typografiequalität also eine
bessere Alternative, und inhaltlich – als Multiplikationszeichen
verstanden – treffend. Oder?« Wir stellen unseren Autor·innen jedoch
frei, ob sie den Mittelpunkt oder eine andere Form benutzen.
Alle personenbezogenen Bezeichnungen sind jedenfalls geschlechtsneutral
zu verstehen.
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8daw ist der
wöchentliche Newsletter von Boris Kochan und Freunden zu Themen rund um den
Wandel in Gesellschaft, Kultur und Politik, Unternehmen und Organisationen.
Er erscheint in Verbindung mit Kochan & Partner und setzt so die
langjährige Tradition der Netzwerkpflege mit außergewöhnlichen
Aussendungen in neuer Form fort. 8daw versteht sich als Community- und
Kollaborations-Projekt insbesondere mit seinen Leser·innen –
Kooperationspartner sind darüber hinaus zum Beispiel die GRANSHAN Foundation, die
EDCH Foundation, der Deutsche Designtag (DT), der BDG Berufsverband der Deutschen
Kommunikationsdesigner und die Typographische Gesellschaft München (tgm).
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Herausgeber und
Chefredakteur von 8daw sowie verantwortlich im Sinne des Presserechts
ist Boris Kochan [bk], Steinerstraße 15c,
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zu erreichen unter boris.kochan@eightdaw.com oder +49 89 178 60-900
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Redaktion: Ulrich Müller [um] und Gabriele Werner [gw]; Chefin vom Dienst/Lektorat: Sigrun Borstelmann [sib]; Regelmäßige Autoren: Markus Greve [mg], Sandra Hachmann [sh], Herbert Lechner [hel], Martin Summ [mas]; Illustrationen: Martina Wember [mwe]; Bildredaktion, Photo-Editing: Pavlo Kochan [pk]; Homepage und Newsletter-Technik: Pavlo Kochan [pk]; Basisgestaltung: Michael Bundscherer [mib]; Schriften: Tablet Gothic von Veronika Burian und José Scaglione sowie Coranto 2 von Gerard Unger, beide zu beziehen über TypeTogether; Versand über Mailjet.
Bildnachweis: Fotografien von Boris Kochan. © Germaine Richier.
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Ausgabe: #114
Erschienen am: 14. Juli 2023 [KW28]
Thema: Körpererfahrung: Spaziergänge durch Paris
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