Das pulsierende Dazwischen
Ein Gespräch mit dem Historiker und Autor Ulrich Raulff über Kennerschaft und Geschmack
Boris KochanHerr Raulff – in Ihrem nächsten Buch geht es um Kennerschaft und Geschmack. Was bedeutet Kennerschaft eigentlich?
Ulrich RaulffIch habe lange gebraucht, um zu begreifen, wozu wir eigentlich Kenner brauchen. Sie können kein Archiv, keine Bibliothek, keine wissenschaftliche Sammlung betreiben ohne Kennerschaft. Mit dieser Erkenntnis war mein Interesse an diesem ganz bestimmten Wissenstyp geweckt – zwischen Wissenschaft, Liebhaberei und Alltagsverstand. Auch bei der Arbeit an meinem Buch über Pferde stieß ich ständig auf das Phänomen des kennerschaftlich organisierten Wissens. Dem wollte ich nachgehen und schauen, was daraus geworden ist – und wo es heute noch seinen Ort hat.
Ulrich MüllerUnd haben Sie diesen Ort gefunden?
Ulrich RaulffGehen Sie in die Bahnhofsbuchhandlung! Da gibt es für jedes durchschnittliche Hobby im Schnitt mindestens zwölf verschiedene Zeitschriften, von Motorrädern über Pferde und Uhren bis zum Heiraten. Ich habe also meinem Verlag ein Buch über Kennerschaft nahegebracht – aber nach einer Weile kamen mir Bedenken, ob das nicht bloß maximal 200 Leute interessiert, denen ich das Manuskript auch in den Briefkasten werfen kann, ohne den Verlag zu bemühen. Dann dachte ich nach: Was ist sozusagen der nächstgelegene Teich – und kam so auf das Thema Geschmack.
Ulrich MüllerKlingt interessant, aber endlos. Womit beginnen Sie, wo setzen Sie ein?
Ulrich RaulffDer Geschmack spielt eine große Rolle im 18. Jahrhundert, und zwar in der philosophischen, theoretischen Ästhetik. Nach Kant ist der Begriff mehr oder weniger raus aus der philosophischen Debatte. Aber zuvor, im 18. Jahrhundert, spielte er eine enorme Rolle und wurde zu einem ganz heißen Begriff – weil er im Kontext von Schönheit und Freiheit stand, den beiden Keywords des Jahrhunderts. Und wer, wie Johann Joachim Winckelmann oder später Friedrich Schiller, diese zwei Phänomene in ein nachvollziehbares Bedingungsverhältnis brachte, wurde damals zum Starautor.
Boris KochanUnd heute?
Ulrich RaulffDer Geschmacksbegriff hat ein starkes, bis heute anhaltendes Nachleben: im Bereich der nützlichen Künste bis hinein in den Gebrauch aller möglichen Dinge und bis zu Phänomenen im Netz. Das ist das Schöne daran, man kann bis tief in die Trivia, ins unnütze Allgemeinwissen, gehen. Ich kann mich drei Tage auf den Geschäftsstraßen von Frankfurt rumtreiben und muss nie ein schlechtes Gewissen haben, weil ich immer voll in der Forschung bin. Im 18. Jahrhundert wäre ich in einen Hörsaal gegangen, im 19. auf eine Weltausstellung, heute gehe ich auf die Gass oder ins Netz.
Von der industriellen Revolution zum Bauhaus
Boris KochanDie Dinge, die Sie in den Straßen sehen, wurden zu großen Teilen von Architektinnen und Architekten oder Designerinnen und Designern entwickelt und haben dazu beigetragen, das auszubilden, was heute im Common Sense als gut oder schlecht empfunden wird. Wie sehen Sie das Verhältnis von Design, Designergebnissen und Geschmack?
Ulrich RaulffVielleicht müssen wir historisch zurückgehen zur Industriellen Revolution. An diesem Dreh- und Angelpunkt geht der Geschmacksbegriff aus einer philosophischen Diskussion über in eine wesentlich weitere und in breiteren Schichten geführte Debatte – Schichten, zu denen auch Architekten gehören. Ich glaube, hier ist der entscheidende Begriff die in den letzten Jahrzehnten viel beforschte Consumer Revolution. Ermöglicht durch die Industrielle Revolution geht Ende des 18. Jahrhunderts die Produktion von Konsumgütern enorm in die Höhe. Daraus folgt auch eine Verstreuung des Geschmacks oder des alltäglichen Schönheitsempfindens.
In dieser Geschichte gibt es ein langes, geradezu feindliches Verhältnis zwischen Engländern und Franzosen. Die Engländer haben die Industrielle Revolution erfunden und stellen technisch sowie materiell hervorragende, aber formal hässliche Sachen her. Die Franzosen hingegen produzieren weniger solides Zeug, das aber gut aussieht und sich besser verkauft. Auch im gesamten Apparat der Betrachtung und des Displays sind die Franzosen den Engländern – zu deren Ärger – überlegen. Dies stößt im 19. Jahrhundert eine große englische Diskussion darüber an, wie man die eigenen Produkte gefälliger macht und besser verkaufen kann. Aus der richtigen Erkenntnis heraus, dass man dazu den Geschmack treffen muss, beginnt in England eine lebhafte Auseinandersetzung mit dem Geschmacksbegriff: seinen Trägern, seinen Medien, seiner Förderung, etwa durch Kunst- und Zeichenschulen. Dann kommt die Weltausstellung 1851, bei der große Geschmacks- und Kunsterzieher wie Henry Cole, Gottfried Semper und Prinz Albert eine aktive Rolle spielen. Damit sind wir schon mitten in der Designentwicklung mit den bekannten Folgen: von der englischen Reformbewegung, von Ruskin und Morris, Arts and Crafts bis hin zum Werkbund und zum Bauhaus. Da wurde also eine unglaubliche Dynamik in Gang gesetzt. Kurz: Am Anfang standen eine enorm vermehrte Warenproduktion und die schlichte Frage, wie man das Zeug unter die Leute bringt.
Geschmack als Wünschelrute für das Schöne und auch das Richtige?
Boris KochanJetzt sind Sie natürlich mitten im Thema Markenentwicklung – was als Begrifflichkeit und als Idee viel später kam und sehr stark USA-geprägt war. In Amerika hat man sich genau dieser Fragestellung angenommen: Wie mache ich das Übermaß an Waren identifizierbar, erkennbar und glaubwürdig kommunikativ transportierbar?
Ulrich RaulffDamit haben Sie es eigentlich schon gesagt: Es geht eben nicht nur um ästhetische Werte, es spielen immer auch ethische hinein. Sie haben gesagt glaubwürdig, aber heute fragt man, ist es auch nachhaltig, dient es dem Tierwohl usw.?
Im 19. Jahrhundert ist noch alles tangiert von dem großen Thema der Nation. Das spielt in England eine ganz große Rolle. So fragt sich etwa der Historiker und Autor Thomas Macaulay: Was brauchen unsere jungen Männer, die wir in die Kolonien schicken, über welche Tugenden müssen sie verfügen? Und hier ist der Geschmack die Nummer eins der Qualitäten, noch vor Durchsetzungsfähigkeit, moralischer Integrität, Loyalität usw. Mit anderen Worten, taste wurde zum nationalen Projekt. Man muss den Leuten Geschmack beibringen, Geschmack ist nicht nur die Wünschelrute für das Schöne, sondern auch eine Wünschelrute für das Richtige, das Gute, und zwar im Sinne der Nation. Da haben Sie also nicht mehr diese Konjunktion von Schönheit und Freiheit wie im 18. Jahrhundert, sondern plötzlich sehen Sie Schönheit, Geschmack und Nation unter einen Hut gebracht.
Geschmack ist immer schnell und bestimmt
Boris KochanWenn Sie sich mit dem Thema Geschmack und Kennerschaft aus der Perspektive des Historikers auseinandersetzen, gibt es da auch etwas, was Sie ganz persönlich treibt?
Ulrich RaulffDas ist sicher die Frage nach der Wichtigkeit und nach dem spezifischen Ort des Geschmacks. Wo spielt sich die Sache eigentlich in uns ab? Tatsächlich ist das Thema nicht so sehr auf der Benutzeroberfläche unseres Bewusstseins verankert, wo die großen Themen zu Hause sind: Krieg und Frieden, Klima, Heizung und so weiter. Es geht mehr in den Bereich unseres idiosynkratischen Profils, in die sensiblen Strukturen unseres Ichs – da spielen sich die Wahlen des Geschmacks ab. Deshalb ist der Geschmack auch so schnell in seinem Binarismus: Gefällt mir, gefällt mir nicht. Oder, im Netz, wo gebe ich ein Like, wo nicht? Die Entscheidung geht einfach den kurzen neuronalen Weg, nicht den langen Weg über die Reflexion. Wir sind sehr schnell im kurzen ersten Moment der Bewertung, und diese Urteile werden selten relativiert oder zurückgenommen. Das gehört mit zum Faszinierenden am Phänomen des Geschmacks – er ist immer schnell und bestimmt.
Ulrich MüllerWir haben schon das Thema Moral und Werte gestreift. Wenn wir sagen, Geschmack ist auch gesellschaftlich vermittelt und damit im weitesten Sinne auch Teil unseres Wertekanons – wie verhält es sich denn dann mit dem Geschmacklosen?
Ulrich RaulffAn die perfekte Koinzidenz von ästhetisch-kritischem und moralischem Geschmacksurteil glaube ich nicht so recht. Man kann ein Virtuose der Hochkultur sein und hat trotzdem seine kleinen Bereiche des Wohlgefallens, die außerhalb der Hochkultur liegen. Sie können ein großer Connaisseur sein und gehen trotzdem ab und zu eine Currywurst an der Bude essen. Das ist nicht immer kongruent. Was ich so interessant daran finde, ist, wie sich da der moralische Mensch in uns sozusagen als porös erweist.
Und worauf ich auch gern ein bisschen herumreite, ist dieser ganze Bereich, der wie ein halbdunkler Hof die gut abgezirkelten Bereiche unserer praktischen und theoretischen Vernunft umgibt.
Geschmack ist eine zutiefst subjektive Angelegenheit
Ulrich MüllerDas Unbewusste?
Ulrich RaulffDas Subjektive. Nehmen Sie den Ekel. Als Kinder machen wir damit reiche Erfahrungen. Später sind wir in bestimmten Zonen nach wie vor ekel-fähig, aber viele der einstigen Feuchtgebiete in uns wurden trockengelegt – und ich glaube, parallel dazu wurde der Geschmack ausgebildet. Der Geschmack ist insofern – das macht ihn so interessant – eine zutiefst subjektive Angelegenheit, vielleicht das Subjektivste in uns überhaupt. Und endlich gibt es diese ganzen vorbewussten und nur halb bewussten Bereiche, in denen wir in Kontakt mit der Welt stehen, in denen wir uns in ein Stimmungsverhältnis zur Welt setzen und tatsächlich auch Erkenntnis gewinnen. Aber eben nicht im Modus der reflektierten Erkenntnis, sondern eher im Modus der Ahnung und der langsam dämmernden Erkenntnis.
Diese Pole – sie machen den Begriff so spannend. Das ist es, was mich an diesem Phänomen so tief glücklich macht, dieses pulsierende Dazwischen. Weil es uns zeigt, dass wir mit allen Fasern unserer gesamten Intimität immer auch gesellige, gesellschaftliche Wesen sind – und als solche doch zugleich ganz individuelle, epistemische und idiosynkratische kleine Teufel bleiben.
Boris KochanEin schönes Bild. Herr Raulff – es hat uns viel Spaß gemacht. Wir danken Ihnen sehr.
Ulrich RaulffDas Vergnügen war ganz meinerseits.
Prof. Dr. Ulrich Raulff ist Historiker und Autor. Die Bandbreite seines Wissens- und Arbeitshorizonts kann nur als extraordinär bezeichnet werden und hat ihm zurecht den Ruf eingebracht, eine zentrale Figur der intellektuellen Landschaft Deutschlands zu sein. Dabei liegt sein Arbeitsschwerpunkt auf der Ideen- und Kulturgeschichte vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Raulff unterrichtet nicht nur an der Humboldt-Universität Berlin, sondern war unter anderem Feuilletonchef der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, leitender Feuilletonredakteur der Süddeutschen Zeitung und Direktor des deutschen Literaturarchivs Marbach. Er ist Präsident des Instituts für Auslandsbeziehungen (ifa) und Mitglied des Präsidiums des Goethe-Instituts, um nur ein paar Stationen zu erwähnen. Die Liste der Auszeichnungen, die er erhalten hat, ist lang und reicht vom Hans-Reimer-Preis der Aby-Warburg-Stiftung bis zum Preis der Leipziger Buchmesse für sein Buch: »Das letzte Jahrhundert der Pferde«, über das Ende des Pferdezeitalters, das 2017 von der Sunday Times zum History Book of the Year gewählt wurde. Ulrich Raullf ist aktuell Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin, wo er sich der Arbeit an seinem neuen Buch widmet: Eine Geschichte des Geschmacks und der Kennerschaft – das auch Gegenstand des Interviews ist, das wir in der vergangenen Woche mit ihm führen durften.